Etwas Wichtiges fiel Lilo ein. »Ich schicke Veronika Wunderer auf jeden Fall eine E-Mail. Sie muss diesen Hirschkopf von der Wand nehmen, wenn Poppi kommt. Und die Lady darf nicht in Pelzmantel und -kappe erscheinen.«
Poppi war nicht nur Tierärztin, sondern auch eine leidenschaftliche Tierschützerin, die energisch für ein Verbot von Pelztierfarmen eintrat.
»Gute Idee«, stimmte Axel zu. Noch immer konnte er sich nicht erklären, wieso Lilo ohne ihn zu fragen diese überstürzte Entscheidung für die Hochzeit im Schnee getroffen hatte. Was steckte dahinter?
Wie es sich wohl anfühlte, zu sterben?
Wie es wohl war, den letzten Atemzug zu tun und die Augen für immer zu schließen?
Würde Leiden vorangehen?
Gab es Schmerzen, wenn keine Waffe im Spiel war?
War der Tod wie ein schwarzer Mantel, der einem umgehängt wurde und den man nicht mehr ablegen konnte?
Nur noch sechs Tage, dann würde es Antworten auf diese Fragen geben.
Es war schade, dass eine Hochzeit durch einen Todesfall gestört werde würde. Aber manchmal gab es Dinge im Leben, die einfach unabänderlich waren. In diesem Fall war das Sterben wichtiger als das zukünftige Glück von Unbekannten.
Wobei es ohnehin fraglich war, wie viel Glück eine Heirat brachte. Da die Hälfte aller Ehen wieder geschieden wurde, war eine Hochzeit mit einem Roulettespiel zu vergleichen, bei dem nur auf Rot oder Schwarz gesetzt wurde. Die Chance, zu gewinnen, stand 1 : 1.
Wie sollte man den Tod nennen, der sich ereignen würde? War es ein »süßer Tod«? Oder ein »Unglücksfall«?
Die Lebensuhr eines Menschen tickte unaufhaltsam. Sprangen die Zeiger auf Null, so war es vorbei.
Tick. Tack.
Noch 144 Stunden.
Tick. Tack.
Nur noch 143 Stunden, 59 Minuten und 50 Sekunden.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Aber manchmal kommt es anders, obwohl man alles so haarklein geplant hat.
Klaus Reder öffnete zum fünften Mal an diesem Tag die Wetter-App auf seinem Handy. Er seufzte und ging dann in das Zimmer, das in wenigen Wochen das Kinderzimmer sein sollte.
Poppi stand vor dem Schrank, in dem auf einer Stange Babykleidung hing. Mit einem seligen Lächeln im Gesicht ging sie die winzigen Kleidungsstücke durch. Ihr Lieblingsteil war ein Overall, wie ihn die Pfleger im Tierpark Herberstein trugen. Sogar das Logo des Tiergartens hatte er auf der Brusttasche.
Still beobachtete Klaus von der Tür aus seine Frau. Er räusperte sich kurz, damit sie von seinem Eintreten nicht erschreckt wurde. Poppi drehte sich zu ihm und hielt den grünblauen Overall in die Höhe.
»Ist es nicht unglaublich lieb, dass die Leitung des Tiergartens diesen Overall für unser Baby nähen hat lassen?«
»Eine sehr freundliche Geste«, stimmte ihr Klaus zu. Die Reders waren die Tierärzte des Zoos und behandelten vom Erdmännchen bis zu den Löwen alle Tiere.
Poppi strich mit der Hand über ihren runden Bauch. »Der Overall wird dir sicher gut passen.«
Klaus trat neben sie und legte seine große Hand auf Poppis Hand, die den Bauch streichelte. »Willst du wirklich nicht wissen, ob wir ein Mädchen oder einen Jungen bekommen?«
»Nein.« Als die Frauenärztin bei der Untersuchung gefragt hatte, ob Poppi und Klaus das Geschlecht des Kindes erfahren wollten, hatte Poppi energisch abgelehnt. »Es gibt doch kaum noch echte Überraschungen im Leben. Deshalb möchte ich bei meiner Geburt eine erleben. Und was immer es ist, egal ob Junge oder Mädchen, es ist das größte Geschenk, das wir bekommen können.«
Da konnte Klaus ihr nur zustimmen. Sie hatten die Hoffnung auf ein Kind schon aufgegeben gehabt, als Poppi schwanger wurde. Die Schwierigkeiten und Unsicherheiten der Anfangszeit waren überstanden und die Vorfreude der Eltern unendlich groß.
Klaus deutete auf die Kleidungsstücke im Babyschrank. »Sind da keine echten Jungensachen dabei? Oder Mädchenkleider?«
Seine Frau musste lachen. »Nein, keine Motorradjacke und kein Prinzessinnenkleid. Ich habe alle Strampler geschlechtsneutral ausgesucht.«
»Sobald deine und meine Familie das Geschlecht kennen, werden wir mit der passenden Babykleidung überschüttet werden.«
Davon war auch Poppi überzeugt. »Aber ich will keine Stereotypen für unser Kind. Wenn es ein Mädchen wird, bekommt es trotzdem den Overall aus dem Tiergarten und wird nicht nur wie ein rosa Bonbon im Kinderwagen liegen.«
Mit diesem Vorschlag konnte sich Klaus gut anfreunden. Als Poppi den Overall zurückhängte, begann er, vorsichtig zu erzählen, was er herausgefunden hatte.
»Die Wettervorhersage für die kommende Woche ist alles andere als freundlich, Poppi.«
»Was heißt das?«
»Starker Schneefall ist angesagt. Vor allem in den Bergen.«
Poppi drehte sich energisch zu ihm um. »Hör zu, ich weiß, dass du nicht wild darauf bist, zur Hochzeit von Lilo und Axel zu fahren …«
»Halt, das stimmt so nicht. Natürlich will ich dabei sein«, korrigierte er.
»Im Sommer haben sie die Hochzeit abgesagt, weil ich das Bett hüten musste. Verstehst du? Nur meinetwegen haben sie das getan. Lilo ist es unendlich wichtig, jetzt endlich zu heiraten und wir werden dabei sein. Ich bin ihre Trauzeugin.«
Liebevoll nahm sie Klaus an den Händen. »Poppi, ich denke nur an dich …«
Sie küsste ihn. »Danke, mein Schatz. Aber die Ärztin hat auch nichts dagegen. Sie meint sogar, was sie aus ihrer langen Erfahrung so sagen kann, wird das Baby eher später als früher kommen. Also ist es frühestens in drei, eher erst in vier Wochen so weit. Vielleicht sogar erst kurz vor Weihnachten. Ein Christkind eben. Oder ein kleiner Weihnachtsmann.«
»Bist du wirklich absolut sicher, Poppi? Dieses Hotel ist irgendwo im Nirgendwo in den Bergen. Ich will nur nicht, dass du auf einmal die Wehen bekommst und wir kein Krankenhaus in der Nähe haben.«
Poppi löste sich aus seinem Griff und ging in Richtung Küche, um Tee zu machen. »Unser Auto hat einen Allradantrieb, du hast Schneeketten im Kofferraum. Was soll schon geschehen?«
»Wir könnten eingeschneit werden.«
»Um diese Jahreszeit? Unmöglich.«
Viel Hoffnung machte sich Klaus nicht, sie umzustimmen, aber er wollte nichts unversucht lassen. »Du bist also fest entschlossen, am Freitag nach Tirol zu fahren?«
Poppi schaufelte energisch Teeblätter in ein großes Sieb und Klaus füllte den elektrischen Wasserkocher.
»Wir fahren in der Früh los und kommen zu Mittag an.« Poppi lehnte sich gegen die Kante der Anrichte. »Vielleicht hat das Hotel Sauna und Hallenbad. Dann kannst du dich einmal erholen, während ich mit dem Rest der Bande plaudere. Abendessen ist dann gemeinsam, am Samstag ist die Hochzeit und sonntags am späten Vormittag treten wir die Rückreise an.«
»Wenn nichts dazwischenkommt.«
»Klaus, bitte hör auf, schwarz zu sehen. Wir fahren zu einer Hochzeit und nicht ins Dschungelcamp.«
Das Wasser kochte und Klaus goss es in die Kanne.
»Ich will nur alles richtig machen«, verteidigte er sich.
Poppi reichte ihm das Teesieb. »Dann fang mit dem Tee an und gib das zuerst in die Kanne, bevor du Wasser einfüllst.«
Sie küsste ihn auf die Wange.
Von: Dominik Kascha
An: Lilo Schroll, Axel Klingmeier, Poppi Reder
Betreff: Ankunft
Hallo ihr drei,
der Countdown läuft. Wer von uns hätte damals, als wir Teenager waren, gedacht, dass Lilo und Axel heiraten werden.
Es gibt so viele Dinge im Leben, die man sich nicht vorstellen kann. Irgendwann aber kommt ein Zeitpunkt, da müssen sie erkannt und angenommen werden. In solchen Zeiten fällt das Annehmen im ersten Augenblick manchmal schwer, aber wenn man sich endlich zur nötigen Erkenntnis durchgerungen hat, entstehen Erleichterung und eine neue Lebensfreude, die man sich vorher nicht vorstellen hätte können.
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