SEMNOS LEHRBUCH
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www.semnos.de
Baer, Udo
Frick-Baer, Gabriele
Wie Traumata in die nächste Generation wirken
Neukirchen-Vluyn:
Semnos Verlag 2012
epub-ISBN 978-3-934933-44-6
© 2012 Semnos Verlag, Neukirchen-Vluyn
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Andrea Hahn
Satz: TRITUM GmbH, Jena
Umschlaggestaltung: Christin Ursprung, Berlin
Titelfoto: Simbär / photocase.com
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
SEMNOS LEHRBUCH
Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Wie Traumata in die nächste
Generation wirken
Untersuchungen, Erfahrungen,
therapeutische Hilfen
SEMNOS
Udo Baer(Neukirchen-Vluyn – Jg. 1949)
Dr. phil., Dipl. Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut, Heilpraktiker für Psychotherapie, Mitbegründer, Geschäftsführer und Gesamt-Ausbildungsleiter der Zukunftswerkstatt therapie kreativ , Vorsitzender der Stiftung Würde, wissenschaftlicher Leiter des Institut für Gerontopsychiatrie (IGP) und des Kompetenzzentrums für Kinder und Jugendliche (KKJ), Autor.
Gabriele Frick-Baer(Neukirchen-Vluyn – Jg. 1952)
Diplom Pädagogin, Kreative Leibtherapeutin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Kreative Traumatherapeutin, Autorin, therapeutische Leiterin der Zukunftswerkstatt therapie kreativ .
Inhalt
1 Von der Erschütterung und Neugier zum Forschungsprojekt
2 Was Therapeut/innen über Traumata wissen müssen
3 Die erste und die zweite Generation: Gemeinsamkeiten
3.1 Das Leiden und das Posttraumatische Stresssyndrom
3.2 Flashbacks
3.3 Erregung
3.4 Vermeidungsverhalten
3.5 Emotionale Abflachung, Ängste und Ängstlichkeit
3.6 Wie erklären sich Gemeinsamkeiten?: Spiegelneuronen und Resonanz
4 Leiden, ohne wissen zu können, warum: die vier Leeren der zweiten Generation
4.1 Schrecken ohne Worte – das große Schweigen
4.2 Verluste ohne Trauer
4.3 Schmerz ohne Trost
4.4 Die psychische Leere und das schwarze Loch
5 Zweite Generation: Leerstellen in Identität und Bindung
5.1 Risse in der Selbstverständlichkeit
5.2 Unstimmigkeiten: Von den zwei Heimaten bis zum „Was stimmt?“
5.3 Die transtraumatogene Bindungsstörung
6 … und viele andere Folgen
6.1 Geringes Selbstwertgefühl – trotz Erfolg
6.2 Leistung, Leistung, Leistung
6.3 „Unten bleiben“ oder „drüber weg“
6.4 Relativierung der eigenen Probleme
6.5 Riesenlast
6.6 Fokussieren und Vermeiden
6.7 Konfliktscheu
6.8 Aggressivität und Gewalttätigkeit
6.9 Abwertung
6.10 Scham- und Schuldgefühle
6.11 Parenting, Überforderung und „Retten wollen“
6.12 Kontrolle und Zwangsnormalität
6.13 Sich ausgeschlossen fühlen
6.14 Desorganisiert oder überorganisiert
6.15 Extreme Identifikationsfähigkeit
6.16 Zeitkollaps
6.17 Abgrund
6.18 Fürsorge und Solidarität
7 Anhaltspunkte in der Therapie: Was die Atmosphäre erzählt …
8 Wie helfen?
8.1 Essentials therapeutischer Arbeit mit transgenerativen Traumata
8.2 Praxisbeispiele
8.2.1 Der Todesstreifen
8.2.2 Schattenbewegung
8.2.3 Der volle Rucksack
8.2.4 „The next generation” und „The last generation”
8.2.5 Wie klingt Leere?
8.2.6 Wer aufgibt, versinkt!
8.2.7 Die schwarzen Kissen und das schwarze Loch
8.2.8 Der Stoff, aus dem die Trauer ist
8.2.9 Zwischen strotzender Kraft und maßloser Schwäche
8.2.10 Der Dreh
8.3 Nachklänge
Literatur
1 Von der Erschütterung und Neugier zum Forschungsprojekt
Ella D. – ihr Name ist wie alle anderen in diesem Buch verändert – zeigte alle Symptome eines Posttraumatischen Stresssyndroms. Sie wurde von Bildern sexueller Gewalt heimgesucht, sie begegnete sich und ihrer Welt mit hoher Anspannung und dauerhaft erhöhter Erregung, sie war ängstlich und wagte kaum, ihren eigenen Gefühlen zu lauschen, geschweige denn, sie zu zeigen, und vermied Situationen, vor und in denen sie Angst hatte oder das Aufkommen von Angst befürchtete. Während einer Verhaltenstherapie probierte sie zahlreiche Verhaltensänderungen aus, meisterte manche Alltagssituationen besser, scheiterte aber in der Bewältigung ihrer als existenziell erlebten inneren Ängste. Diese Ängste und die Anspannung blieben oder kehrten nach kurzer Zeit wieder zurück und hatten bedeutsame Auswirkungen auf ihr Leben. Innerhalb einer leiborientierten tiefenpsychologisch fundierten Therapie fand sie den für sie geeigneten Rahmen und Boden, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstsicherheit zu entwickeln und zu erhöhen und ihre Grundspannung zu vermindern. Aber auch wenn es ihr besser ging: Die alten Bilder kamen immer wieder und die Ängste lauerten weiterhin zumindest unter der Oberfläche. Sie und ihre Therapeutin gingen gemeinsam auf die Suche, ob eine Erfahrung sexueller Gewalt vorlag, so offensichtlich waren die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, also einer chronifizierten Folge einer traumatischen Erfahrung. Doch sie gingen mit ihrer Suche ins Leere, es fanden sich keine Hinweise auf eine biografische Quelle der Phänomene, unter denen Ella D. litt. Die Therapie stockte.
Die Klientin war Mitte der 1950er Jahre geboren worden. Dass der Vater als Jugendlicher am Ende des Zweiten Weltkriegs eingezogen wurde und als Flakhelfer aktiv war, hatte die Klientin erzählt, von der Biografie der Mutter allerdings kaum etwas. Die Therapeutin bat Ella D., ihre Mutter zu fragen, was sie im Krieg und in der Zeit danach erlebt hätte. In die nächste Therapiestunde kam Ella D. sehr aufgeregt und erzählte: „Meine Mutter war im Krieg ja ein junges Mädchen und hat sich vor allem auf dem Land bei Verwandten aufgehalten, so dass sie von den Bomben und so nichts mitbekommen hat. Dass ist das, was ich bisher als offizielle Version aus dem Leben meiner Mutter wusste, das ist das, was bei uns zu Hause erzählt wurde. Doch als ich jetzt meine Mutter fragte und sie ganz dringlich gebeten habe, mir von sich zu erzählen, wurde sie kreidebleich und erzählte mir irgendwann, nachdem ich noch ein paar Mal nachgefragt habe, dass sie 1946 vergewaltigt worden ist. Damals war sie 14 und ich glaube, das hat sie nie überwunden. Mit 19 ist sie dann noch einmal in eine Situation gekommen, wo sie kurz vor einer Vergewaltigung stand oder zumindest glaubte, dass es so wäre. Ich glaube, das steckt ihr noch in den Gliedern, und ich kann jetzt besser verstehen, warum sie immer so zurückhaltend war und so ängstlich.“
In der weiteren Therapie wurde deutlich, dass Ella D. den traumatischen Schrecken ihrer Mutter übernommen hatte, ihn sich „einverleibt“ hatte – obwohl oder gerade weil darüber nie gesprochen worden war. Sie hatte und lebte alle Symptome einer traumatischen Erfahrung, ohne diese Erfahrung zu haben, ihr Trauma war nicht ihr eigenes, selbst erlebtes, sondern ein transgeneratives, eines, das über die Generationen hinweg weitergegeben worden war.
Thomas S. kam wegen massiven Angststörungen in die Therapie. Er fand einige Quellen dieser Ängste in seiner Biografie. Dadurch veränderte sich seine Gefühlslandschaft, die nun weniger durch Angstgefühle geprägt war, und dadurch veränderten sich auch einige eingespielte Verhaltensmuster. Vieles wurde bearbeitet, Thomas S. malte sichere Orte und einen sicheren Rahmen und er malte seine Ängste: Eingesperrtsein, Dunkelheit, Enge. Er empfand es als hilfreich, die Botschaften des bildnerischen Ausdrucks zu verstehen. Die Ängste tauchten dennoch in seinen Träumen auf und verfolgten ihn tagsüber. In einem immer wiederkehrenden Albtraum war er eingesperrt, wollte schreien, konnte aber nicht.
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