Eine quantitative Betrachtung des AKH ergibt, dass die Gruppe keine fest umschriebene oder starre Institution war. Vielmehr lassen sich vor allem 1969/70 erhebliche personelle Fluktuationen beobachten. Während die erste Protestkundgebung vom 19. Juli 1969 zunächst 130 542und später gar 155 543Unterzeichner der Note an den Papst und die Kardinäle aufwies, nahmen am Nienburger Treffen am 27. September 1969 lediglich 29, an der Versammlung am 14. März 1970 immerhin 75 und an der konstituierenden Gründungsvollversammlung des AKH 53 544Personen teil. 545Offensichtlich hatten die Arbeitsweise und das Vorgehen des sich formierenden AKH nicht wenige Sympathisanten der ersten Stunde Distanz suchen lassen. 546In diesem Zusammenhang gewinnen die Zahl und der Kreis der Empfänger der AKH-Rundbriefe an Bedeutung. Waren es im Gründungsjahr 1970 noch 109 547Informationsempfänger, so stieg ihre Zahl bereits 1974 auf 309 548, 1975 auf 338 549und sank im Jahr 1977 auf 270 550. Ob sich diese Zahlen in den 80er Jahren wesentlich verändert haben, ist nicht überliefert. Da in den Quellen des AKH vereinzelt äußerst detaillierte Adresslisten erhalten geblieben sind, kann eruiert werden, wie sich der Empfängerkreis der Briefsendungen zusammensetzte. 551Vermutlich hatte es ein 1982 vom MfS geplanter Einbruch in das Nienburger Pfarrhaus auf genau diese Listen abgesehen. 552Eine exemplarische Aufschlüsselung der 309 Briefempfänger für das Jahr 1974 zeigt, dass 66 Mitglieder des Aktionskreises, 122 Empfänger im Bischöflichen Amt Magdeburg (BAM), 109 innerhalb der DDR und 12 Personen in der Bundesrepublik die Briefe erhalten haben. 553Eine noch detailliertere Empfängerliste aus dem Jahr 1977 lässt weitere Schlüsse zu. Zunächst kann für den Zeitraum, in dem diese Liste verbindlich war, und dieser dürfte sich wohl über das Jahr 1977 hinaus erstreckt haben, festgehalten werden, dass die AKH-Rundbriefe in alle ostdeutschen Bistümer und Jurisdiktionsgebiete verschickt wurden. 554Im Bischöflichen Amt Magdeburg erhielten nicht nur die 69 Mitglieder des AKH, sondern noch weitere 45 Laien und 43 Priester sowie die beiden Bischöfe den Rundbrief. 555DDR-weit erhielten weitere 37 Priester 556, 41 Laien 557sowie Bischof Aufderbeck 558die Rundbriefe. In der Bundesrepublik gingen die AKH-Rundbriefe unter anderem an Hubertus Halbfas 559und Klemens Richter 560sowie an Empfänger in München, Dortmund, Münster, Essen, Bochum, Karlsruhe. 561Zwar wird man aus der Anzahl der Briefempfänger nicht leichthin weitere Sympathisanten extrapolieren können. Eher dürfte die in der DDR dauerhaft unbefriedigende Informationsversorgung für die Bestellung der AKH-Informationen mit ausschlaggebend gewesen sein. Dennoch ist festzuhalten, dass nicht nur verschiedene Professoren des Erfurter Theologisch-Philosophischen Studiums die Rundbriefe von Anfang an erhielten (H. Schürmann, W. Ernst, B. Löwenberg, L. Ullrich, G. Hentschel, K. Feiereis) 562, sondern auch ein Kreis von Personen an innerkirchlichen Schlüsselpositionen (u.a. Dieter Grande, Dr. Werner Becker, Dr. Wolfgang Trilling, Gerhard Lange 563). Der Grad der Verbreitung dieser für die ostdeutsche Kirche offensichtlich nicht unbedeutenden theologischen Informationsquelle ist daher wesentlich größer einzuschätzen, als es die regionale Verortung anhand des Namens und die innerkirchliche Stigmatisierung als „Nestbeschmutzer“ vermuten lässt.
Ausgehend von den durch den Aktionskreis selbst überlieferten Anwesenheitslisten der Vollversammlungen ergibt sich eine durchschnittliche Teilnehmerzahl von ca. 45 Personen. 564Die 5. Vollversammlung 1971 wies mit 76 Teilnehmern die größte, die 16. Vollversammlung 1974 mit nur 21 Personen die geringste Beteiligung auf. 565Die akademische Herkunft der meisten Mitglieder und Sympathisanten wurde nur vereinzelt aufgebrochen. 566Detaillierte Informationen über die tatsächliche Mitgliederstärke des Aktionskreises sind nicht für den gesamten Zeitraum überliefert. Vermutlich ist hierfür die staatliche Observation durch das Ministerium für Staatssicherheit mitverantwortlich, konnten derartige Informationen doch leicht zu einem veritablen Sicherheitsrisiko avancieren. Anfang 1971 hatte der Aktionskreis insgesamt 72 eingeschriebene Mitarbeiter. 567In den darauffolgenden Jahren schwankte die Mitgliederzahl, sodass sie sich im Dezember 1974 auf 66 568, im April 1975 auf 73 569, im November 1975 auf 68 570und im Juli 1977 auf 69 Mitarbeiter 571belief. Ein exemplarischer Vergleich der Mitgliederzahlen und ihrer Verteilung auf Priester und Laien für die Jahre 1971, 1975 und 1978 zeigt, dass das Verhältnis zwischen Priestern und Laien zumindest in den 70er Jahren etwa 1 zu 2 betrug. 572Ab 1975 nahm zudem die Zahl der laisierten Priester deutlich zu. Aufgrund der vorhandenen Quellen lässt sich feststellen, dass die Mehrzahl der AKH-Mitarbeiter auf das Territorium zwischen Magdeburg, Halle und Leipzig verteilt war. 573Für Christen aus anderen Gebieten der DDR war der AKH nicht selten ein geistiger und geistlicher Rückzugsort. 574Die Anzahl der verbindlich eingeschriebenen Mitarbeiter des AKH dürfte ausgehend von den vereinzelten Werten durchschnittlich bei über 50 gelegen haben. Allerdings ergibt sich im Vergleich zu den durchschnittlich 45 Teilnehmern der Vollversammlungen, diese setzten sich allerdings sowohl aus Mitarbeitern als auch aus Sympathisanten zusammen 575, dass es eher ein kleinerer Kreis von eingeschriebenen Mitarbeitern war, der zusammen mit dem Sprecherkreis zum engeren Zirkel der Gruppe gehörte, regelmäßig an Veranstaltungen des Kreises teilnahm und die Arbeit des Aktionskreises entscheidend mit- und vorantrug.
Dieser Gruppe angehörig waren vor allem die vom AKH selbst als „Gründungsväter“ 576bezeichneten fünf Priester Heribert Kamper 577, Helmut Langos 578, Adolf Brockhoff, Dr. Claus Herold und Willi Verstege. 579Die Bezeichnung als „Väter“ ist für das Verständnis der Gruppendynamik relevant, bedenkt man, dass diese Generation kriegsbedingt häufig ohne leibliche Väter aufwuchs. Diese fünf Männer, freundschaftlich untereinander verbunden, waren ursprünglich Paderborner Priester, die nach ihrer Priesterweihe in den 50er Jahren freiweillig in die SBZ gegangen waren und nicht, wie durchaus üblich, nach einigen Jahren in die infolge des bundesdeutschen Wirtschaftswunders aufstrebende Bonner Republik zurückkehrten. Man wird sicher nicht zu Unrecht behaupten, dass es sich bei diesen jungen Männern um die erste Garde Paderborner Diözesanpriester handelte. Sie stellten von Beginn an das personelle Gravitationszentrum dar, um das herum sich der Kreis Gleichgesinnter sammelte. Allerdings übernahmen sie durchaus unterschiedliche Rollen und Aufgaben. Heribert Kamper war Pfarrer in Leuna und wirkte im AKH eher als väterlicher Organisator im Hintergrund. Besonders zu erwähnen ist allerdings seine - trotz der Umweltbedingungen in Leuna - erfolgreiche Zucht der Sittichenart Platycercus elecica (Prachtrosella) . Der Verkauf dieser Vögel ermöglichte es Pfarrer Kamper, besonders laiisierte Priester in nicht unerheblichem Maß finanziell zu unterstützen.
Der Merseburger Pfarrer Helmut Langos geriet 1968 in Konflikt mit Weihbischof Rintelen, da er in einem katholischen Eheseminar in Eisleben „die verschiedensten empfängnisverhütenden Methoden bei entsprechend vorliegenden Gründen für eine Geburtenregelung für sittlich erlaubt erklärt“ 580hatte. Der Weihbischof verbot, noch bevor die Enzyklika Humanae vitae am 25. Juli veröffentlicht wurde eine solche Aussage in einem katholischen Eheseminar. 581Eng mit Pfarrer Langos verbunden war Wilhelm Verstege. 582Auch er ging nach der Priesterweihe 1952 freiwillig in den Ost-Teil des Erzbistums Paderborn und wurde 1960 Pfarrvikar in der Nienburger Gemeinde St. Nikolaus. 583Weihbischof Rintelen äußerte sich 1965 gegenüber Erzbischof Jaeger zu seinem Pfarrvikar: „Ganz besonders schön war die Firmungsfeier in der herrlichen Schlosskirche zu Nienburg. Herr Pfarrvikar Verstege hat zudem ein großartiges Pfarrhaus gebaut, und zwar natürlich zur Straße hin. Hinter dem Hof ist ein ganz moderner, großer Gemeindesaal entstanden, und in dem Seiten-Grundstück hat er Räume für Kleinkinder und größere Kinder, in denen es immer von Jugend wimmelt. Die größere Gemeinde Nienburg (ringsum sind große industrielle Werke entstanden) könnte ohne weiteres Pfarrei werden, aber Verstege hat noch kein Pfarrexamen gemacht. Er ist ein Seelsorger, wie man ihn nicht besser wünschen kann, verklüngelt aber leider Etat und Kirchenrechnung und hat ebenso eine rechtzeitige Ablegung des Pfarrexamens verklüngelt.“ 58453 Jahre lange wirkte Willi Verstege als Priester in Nienburg und setzte sich für die katholische Gemeinde und besonders die Jugend, seine Familie, die evangelische Gemeinde und Schlosskirche sowie den AKH ein. Hier wurden die Rundbriefe des Aktionskreises kopiert und mit der Post versendet. Unter seiner Ägide wurden zudem jene vom Konzil her formulierten Ansprüche im Hinblick auf Ökumene, Glaubwürdigkeit der Verkündigung und geschwisterliches Miteinander des priesterlichen Volkes Gottes eingeübt und über Jahrzehnte praktiziert. Nach dem Tod der anderen Gründungsväter wurde Willi Verstege zu einem spirituellen und geistlichen Mittelpunkt des AKH. Seine persönliche Integrität und die Glaubwürdigkeit seiner Verkündigung sind weit über die Nienburger Gemeinden und den Aktionskreis Halle hinaus geschätzt worden.
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