An Weihnachten gönnen wir uns also den Luxus und zeigen Gefühle. Junge und Ältere. Einer der seltenen Momente, wo eine fundamentale Glaubenswahrheit uns auch emotional berührt. Wenigstens kurzzeitig. Doch währenddessen sind auch wir Erwachsenen ganz einfach offen und empfänglich für die feinen, längst schon fremd gewordenen Regungen der Seele. Und wir werden ansprechbar für Wahrheiten, die nicht den Gesetzen der Rationalität folgen und denen sonst heute eigentlich nur noch Kinder vertrauen.
Diese kindliche Unbefangenheit, mit der auch wir Erwachsenen uns dem Geschehen am Heiligen Abend hingeben, lässt uns dann im Kontrast offenbar werden, was uns sonst das ganze Jahr über oft so fehlt. Genau das ist meinem Verständnis nach gemeint, wenn der erwachsene Jesus später seine Jünger ermahnt: „Wenn ihr nicht wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 18,3).
Viele Menschen wünschen sich, dass die dogmatische Kopflastigkeit des Glaubens in der Kirche öfter so emotional durchbrochen wird. Heute weiß man, dass Menschen normalerweise auch über eine Art ‚sinnlicher Intelligenz‘ verfügen, wenn sie ihnen nicht in der Erziehung abtrainiert wurde oder wenn sie selber diese nicht haben verkümmern lassen. Deshalb sehnen viele sich ja geradezu nach einem ganzheitlichen Zugang zum Reichtum des Glaubens – dabei dem Plan Gottes folgend, „alles zu vereinen, was im Himmel und auf Erden ist“ (Eph 1,10). Viele spüren, dass die wahre Sehnsucht nach Gott nicht im Kopf, sondern im Herzen wohnt. Vielleicht sind Gefühle manchmal nicht nur näher am Leben als der denkende Kopf, sondern auch näher bei Gott.
Menschen sind und bleiben sich gegenseitig immer ein Rätsel. Eigentlich lebenslang, trotz aller Vertrautheit. Diese Rätselhaftigkeit mag sich im Laufe der Jahre ändern, vielleicht sogar abnehmen. Doch immer wieder wird auch jedes noch so vertraute Miteinander neue Fragen aufwerfen, wird bisher Unerkanntes hervortreten und Unsicherheit entstehen lassen.
Den Jüngern Jesu ging es nicht anders. Der Evangelist Matthäus erzählt davon: „Als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger: Für wen halten die Leute den Menschensohn? Sie sagten: Die einen für Johannes den Täufer, andere für Elija, wieder andere für Jeremia oder sonst einen Propheten. Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Mt 16,13–15).
Ist das nicht auch unsere Frage? Nicht so, dass wir in die Krippe schauen und dann nach Lust und Laune drauflosphantasieren sollen, was wir von dem Kind in der Krippe halten wollen; und am Ende gilt dann, was die Mehrheit meint. Das wäre zwar irgendwie demokratisch. Wahrheiten jedoch lassen sich nicht durch Mehrheitsentscheid festlegen. Eine Wahrheit ist entweder oder sie ist nicht. „Nicht der Konsens begründet die Wahrheit, sondern die Wahrheit den Konsens“ (Ratzinger). Wahrheit will also gesucht, will entdeckt und aufgespürt werden. Auch die geheimnisvolle Wahrheit, die dieses Kind in der Krippe umgibt.
Das Gespür für diese Suche nach Wahrheit ist heute bei vielen Menschen in die Krise geraten. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wahr vor allem das ist, was die Interessen einflussreicher Einzelner vorgeben. Um dieser Wahrheit willen wird dann häufig gelogen, getrickst, getäuscht, was das Zeug hält. In allen Bereichen. Doch die meisten von uns spüren deutlich: Es ist nicht alles so, wie es eigentlich sein sollte. Viele sehnen sich deshalb nach einer verbindlichen Wahrheit und nach Wahrhaftigkeit.
Wenn wir die Wahrheit aus unserem Leben verdrängen, lassen wir auch Gott darin keine Rolle mehr spielen. Im biblischen Sinn ist Gott selber nämlich die Quelle aller Wahrheit. Dass „sein Wort wahrhaftig“ und „sein Tun verlässlich“ ist (Ps 33,4), das haben im Laufe der Heilsgeschichte Menschen immer wieder und auf vielerlei Weise spüren dürfen. Das hat in ihnen Vertrauen geweckt und ließ die Überzeugung reifen: „Wenn du dich an die Wahrheit hältst, wirst du bei allem, was du tust, glücklich sein“ (Tob 4,6).
Der Mensch ist von Natur aus auf Wahrheit hin angelegt. Wir alle sind eigentlich „Wahrheitssucher“. Dieser Drang ist uns wie ein Prägemal mitgegeben. Wenn wir diese natürliche Veranlagung verdrängen oder eben durch unwahrhaftiges Verhalten verletzen, dann bringt uns das innerlich aus dem Gleichgewicht. Der Kirchenvater Augustinus meinte sogar, dann zerstören wir die allumfassende Ordnung, in die der Schöpfer uns und die gesamte Welt hineingestellt hat.
Für wen also halten wir das Kind in der Krippe? Wir begreifen, dass dies eigentlich keine Frage nach unserer Meinung ist, sondern vielmehr ein Appell an uns, nach Zeichen Ausschau zu halten, die uns der Wahrheit über dieses Kind auf die Spur bringen.
Die Evangelisten haben solche Zeichen gesammelt, die Aufschluss geben, wer das Kind in der Krippe in Wahrheit ist. Ich war lange Zeit der naiven Auffassung: Die Evangelien sind eine Art Berichterstattung; Augenzeugen und Zeitzeugen erzählen uns darin alles so, wie es sich tatsächlich zugetragen hat und wie sie es erlebt haben. Unter solchen einfachen Vorstellungen war für mich immer unbegreiflich geblieben, warum so viele Menschen im Umfeld Jesu ihn dann offenbar nicht in seiner wahren Identität erkennen wollten.
Heute weiß ich, dass man es sich so einfach nicht machen darf mit den Evangelien. Sie sind ja keine Tagebuchnotizen. Die Evangelisten haben ihre Aufzeichnungen erst aus der Ostererfahrung heraus gemacht. Der Auferstandene selbst hat ihnen seine wahre Identität offenbart. Erst aus dieser Erfahrung heraus versuchen sie in der Rückschau eine Erhellung der gesamten Existenz Jesu. Zurück bis zur Empfängnis und zur Geburt Jesu sammeln sie aus der mündlichen Überlieferung Zeichen, die das „verborgene Geheimnis“ seiner „göttlichen Herrlichkeit“ (Kol 1,26–27) offenbar werden lassen:
– die Ankündigung seiner Geburt durch den „Engel Gottes“ (Lk 1,26);
– seine Mutter ist Jungfrau und wird schwanger vom Heiligen Geist (Lk 1,34–35);
– bei seiner Geburt werden die Hirten von der „Herrlichkeit (doxa) des Herrn“ umstrahlt (Lk 2,9);
– eine ganze Schar von Engeln kommt dazu und lobt Gott mit den Worten: „Herrlichkeit (doxa) sei Gott in der Höhe“ (Lk 2,14);
– sogar Sternkundige aus dem Osten, also gebildete Leute, Intellektuelle, Wissenschaftler, lassen sich von einer merkwürdigen Sternkonstellation nach Betlehem locken (Mt 1,18–2,12);
– Simeon preist Gott, weil er „die göttliche Herrlichkeit“ (doxa) noch sehen darf, die dem Volk Israel angekündigt war (Lk 2,30–32).
Eine Schlüsselrolle nimmt das griechische Wort doxa ein, das hier „Herrlichkeit“ oder umfassender „Glanz der göttlichen Herrlichkeit“ bedeutet. Seit der Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische (sog. Septuaginta) ist doxa zum Inbegriff der Sphäre des Göttlichen und des Himmlischen geworden. Das deutsche Wort „Herrlichkeit“ hat sprachlich nichts mit „Herrschaft“ oder „herrschen“ zu tun, wie man meinen könnte, sondern bedeutet in seiner althochdeutschen Sprachwurzel vielmehr „erhaben, glanzvoll, prächtig“ .
Es sind zeichenhafte Tatsachen, von denen uns die Evangelisten hier erzählen. Man muss sie deuten, denn Zeichen sprechen ja nie für sich selber. Ihr Sinn und Zweck liegt darin, auf etwas anderes zu verweisen – eben Zeichen für etwas sein. So hat auch der alttestamentliche Psalmbeter die Zeichen Gottes verstanden: als Wegmarken für ein gelingendes Dasein. „Tu ein Zeichen und schenke mir Glück!“ (Ps 86,17).
Auch die Zeichen, die in der Heiligen Nacht bei Betlehem geschahen, offenbaren, dass Gott uns Glück und Heil schenken will. „Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt“ (Lk 2,12). Dabei geht es überhaupt nicht darum, was wirklich war , sondern wer dieser Jesus ist . Die Zeichen lüften das Geheimnis: Mit Jesus liegt die „göttliche Wahrheit in Person“ vor uns.
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