Und das Zweite ist das Gebet um Kraft und Mut. Dieser Papst bewegt sich mit traumwandlerischer Sicherheit – dieser Mann lebt aus tiefen Quellen. Das macht ihn jedoch auch gefährlich und verführerisch. Nach allen Enttäuschungen und Frustrationen mit kirchlichen Autoritäten bietet er sich geradezu an als der starke und zugleich liebevolle Übervater. Jesuanische Autorität jedoch hält nicht in infantiler Abhängigkeit, sondern lässt wachsen. Ich wünsche Jorge Mario Bergoglio viel Kraft und Mut, der Papsteuphorie und dem Personenkult die Stirn zu bieten – nicht um die Kirche in eine „bürgerliche Demokratie“ zu transformieren, sondern um mit der Autorität Jesu eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern zu formen, in der die Ausgegrenzten und Getretenen dieser Erde vollen Sitz und Stimme erhalten.
Immer wieder wird die Frage laut, ob dieser Papst ein „Papst der Befreiungstheologie“ ist oder nicht. Ich halte die Frage für völlig irrelevant, denn solche kranke Selbstbezogenheit ist der Befreiungstheologie, die ich als authentisch anzuerkennen bereit bin, von ihrem Wesen her völlig fremd. Es geht hier nicht um das Durchsetzen einer theologischen Schule gegenüber einer anderen. Das einzig wirklich Interessante ist, ob dieser Papst ein „Papst nach dem Herzen Jesu“ ist – und ob er der Kirche als Ganzes hilft, mehr das Antlitz Jesu widerzuspiegeln.
Und das Dritte und Letzte ist ein Wunsch: Dieser Papst kann erfrischend unbefangen und frei sein. Die Präsidentin Argentiniens, Cristina Kirchner, hat Kardinal Bergoglio, der ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik hart anprangerte, in den letzten Jahren vierzehn Mal die erbetene Audienz verweigert. Franziskus jedoch empfing sie wenige Tage nach seiner Wahl und bedankt sich für ihren Besuch mit einem Küsschen auf die Wange. Dieser Papst definiert die Begegnung und den Dialog als seine „Weise des Vorangehens“: „Man muss sich kennenlernen, sich zuhören und das Wissen um die Welt um uns vermehren. … Neue Ideen entstehen und man entdeckt neue Bedürfnisse. Das ist wichtig: sich kennenlernen, sich gegenseitig zuhören, seinen Gedankenhorizont erweitern.“ 14
Ich träume davon, dass sich Franziskus mit derselben Unbefangenheit, mit der er Cristina Kirchner küsst und sich mit dem Atheisten Eugenio Scalfari und dem Rabbiner Abraham Skorka freundschaftlich unterhält, sich eines Tages mit feministischen Theologinnen zusammensetzt, zum Beispiel mit Ivone Gebara, aber auch mit jungen Theologinnen aus Lateinamerika und allen anderen Kontinenten – und dazu noch einige Ordensfrauen aus den USA einlädt. Um meiner Kirche und ihrer Zukunft willen träume ich davon, dass Franziskus den Frauen aufmerksam zuhört – und die Frauen Franziskus – mit dem Verdacht, dass sie voneinander zu lernen hätten. Dass sie gemeinsam die Ängste vor den ganz verschiedenen Sprachwelten und Kulturen überwinden und sich gegenseitig ganz neue Welten und Erfahrungen erschließen. Dass sie ihre tiefe Verbundenheit im Traum von der „armen Kirche für die Armen“ entdecken und konspirativ Strategien entwickeln, um ihn effektiv umzusetzen.
Sichtweisen aus Deutschland
Ludwig Schick
Konkretion des Ideals für Deutschland – Der „Katakombenpakt“ und die „Solidarwerke“
Dr. Ludwig Schick ist Erzbischof von Bamberg und Vorsitzender der Kommission „Weltkirche“ der Deutschen Bischofskonferenz 15
Als jemand, der mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil groß geworden ist, erinnere ich mich in den Jahren des Konzilsjubiläums 2012–2015 an die Radioansprache des seligen Papstes Johannes XXIII., vier Wochen vor der Eröffnung des Konzils am 11. September 1962, die den Begriff „Kirche der Armen“ zu einem „Leitwort“ für die Zukunft machte. Ich erinnere mich an den „Katakombenpakt“ in den Domitilla-Katakomben Roms von 40 Bischöfen am 16. November 1965, denen sich dann weitere 500 anschlossen, 16und selbstverständlich auch an die Konzilstexte, die sich bezüglich Armut und des Einsatzes für die Armen an die ganze Kirche und speziell an die Bischöfe und Priester richten. Diese Texte sind alle nach wie vor maßgebend und harren der Umsetzung. Manche Kirchenkritiker wird diese Feststellung wieder zum Vorwurf verleiten: „Seit 50 Jahren wird von der ‚Armen Kirche und der Kirche für die Armen‘ gesprochen und immer noch ist nichts umgesetzt.“
Aber schon seit 2000 Jahren steht die Forderung nach der „Armen Kirche und Kirche für die Armen“ im Raum! Jesus Christus hat sie selbst erhoben und sie harrt immer der Umsetzung: „Selig die Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich“ (vgl. Mt 5,3/Lk 6,20). „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“ ist seit Jesus ein „Dauerbrenner“ und muss ein „roter Faden“ sein, an dem sich die Christen stets neu orientieren müssen, „ein Stachel im Fleisch“, der die Kirche immer wieder „anstachelt“, sich und ihr Tun zu überprüfen. Die Forderung nach „Armer Kirche und Kirche für die Armen“ gehört zu „Ecclesia semper reformanda“. Im Laufe der Kirchengeschichte war die Kirche immer wieder „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“, weil sie sich dazu bekehrte oder dazu bekehrt wurde. So zeigte z. B. der Diakon Laurentius, der Kaiser Valerian die Schätze der Kirche ausliefern sollte, auf die Armen der Stadt Rom, die zur Christengemeinde gehörten, mit den Worten: „Das sind die Schätze der Kirche.“
Die Kirche wurde auch von außen zur Armut gezwungen und zur „Kirche der Armen“ gemacht, z. B. in den Vandalenstürmen am Ende der Römerzeit und in der Säkularisation 1802/1803, was ihr aber für ihre wesentlichen Aufgaben fast immer mehr genützt als geschadet hat. Es muss zu allen Zeiten Ziel der Christen sein, nach einem evangeliumsgemäßen Leben zu streben und so eine lebensdienliche Kirche zu bilden. Dafür sind Entschiedenheit und Anstrengung nötig. In dieser Weltzeit ist uns aufgetragen, uns immer wieder zur „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“ zu bekehren. Endgültig wird dieses Ziel erst in der Ewigkeit erreicht.
Das Ideal muss konkretisiert werden
Um der biblischen und daher unabdingbaren sowie immer gültigen Forderung „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“ zu entsprechen, sind ein positiver Realismus, Geschichtsbewusstsein, großer Weitblick und entschiedenes Handeln nötig. „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“ ist in jedem Land und in jeder Nation anders. Kirche muss sich inkulturieren; die Kulturen sind auch hinsichtlich der materiellen Güter sehr unterschiedlich. „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“ bedeutet in Deutschland etwas anderes als z. B. im Tschad oder in der Erzdiözese São Paulo, in der die Unterschiede zwischen Reich und Arm hautnah aufeinanderprallen. „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“ ist sodann auf die jeweiligen Personen hin zu adaptieren. Ein Franziskaner muss anders arm sein als ein Bischof – ein verheirateter Christ anders als ein zölibatärer Priester. „Arme Kirche und Kirche der Armen“ ist des Weiteren von der jeweiligen Zeit und ihren Umständen mitbestimmt. So ist zum Beispiel ein Zurück in die Jerusalemer Urgemeinde oder in die Katakombenzeit ungeschichtlich und unrealistisch. Eine generelle und undifferenzierte Forderung „Arme Kirche und Kirche für die Armen“ führt zu nichts. Bei all diesen Verschiedenheiten muss der Ruf des Evangeliums nach stetigem Bemühen um „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“, der sich an jeden Christen richtet, aber ernst genommen werden. Deutlich ist schließlich, dass „Kirche der Armen und Kirche für die Armen“ eng zusammenhängen. Nur eine „Kirche der Armen“ kann eine „Kirche für die Armen“ sein, nur wer bereit ist, abzugeben und zu teilen – arm zu werden –, kann „Kirche für die Armen“ sein, nur eine solche Kirche ist Reich-Gottes-tauglich.
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