Der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff macht aus theologisch-ethischer Perspektive die Notwendigkeit eines veränderten Umgangs mit wiederverheirateten Geschiedenen deutlich. Kritisch beurteilt er in diesem Zusammenhang drei Punkte, die er für die große Distanz zwischen der gegenwärtigen kirchenrechtlichen Regelung und der Lebenserfahrung einer großen Zahl der betroffenen Männer und Frauen verantwortlich macht. So sei erstens der kanonistische Ehebegriff selbst problematisch, dessen einseitige Fixierung auf den sexuellen Vollzug der Ehe ein Relikt ihrer durch das Konzil überwundenen, vertragsrechtlichen Sichtweise darstelle. Als ein zweites Problem identifiziert Schockenhoff das unzureichende Sakramentenverständnis, das der Identifikation von Ehevertrag und Sakrament zugrundeliegt. Eine dritte Schwäche der Argumentation, nach der wiederverheiratete Geschiedene wegen des objektiven Widerspruchs, in dem sie zur kirchlichen Lebensordnung stehen, von den Sakramenten ausgeschlossen werden müssen, sieht er in der reduzierten Rolle des Gewissens. Dessen Funktion beschränke sich nämlich letztlich darauf, die Verletzung der vertraglichen Pflichten anzuerkennen, die sich aus dem fortbestehenden Rechtsverhältnis der ersten Ehe ergeben. Genau hier setzt Schockenhoff an, wenn er sich für eine Anerkennung der unhintergehbaren Kompetenz des Gewissens als letzter Beurteilungsinstanz ausspricht. Schließlich lasse das einfache Faktum einer nochmaligen Heirat keinen generellen Rückschluss auf das Vorliegen schwerer Schuld zu. Denn diese besitze neben dem objektiven Tatbestand eines Vergehens oder Fehlverhaltens immer auch einen subjektiven Aspekt, der nicht von außen zu beurteilen ist. In diesem Zusammenhang könne die gegenwärtige kirchenrechtliche Regelung jedoch der vom Lehramt in Familiaris consortio selbst erhobenen Forderung nicht gerecht werden, verschiedene Situationen gut zu unterscheiden und differenziert zu beurteilen.
Geradezu im Stil einer Streitschrift räumt der Münsteraner Kirchenrechtslehrer Thomas Schüller mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen an seine Disziplin auf und mahnt den Dialog über die elementaren theologischen Fragen im Kontext von Ehe, Scheidung und Wiederheirat an. Vieles sei eben kein Problem des Kirchenrechts, das als „geronnene Dogmatik“ nur den lehramtlichen Status quo repräsentiere. Schließlich bringe der neue Kodex das neue, personale Eheverständnis aus Gaudium et spes bereits in seinem Eingangskanon präzise auf den Punkt. Freilich komme aber neben anderen theologischen Disziplinen auch dem Kirchenrecht die Aufgabe zu, dem Lehramt zu Einsichten in die eigene Tradition zu verhelfen. Vor diesem Hintergrund identifiziert Schüller Fragwürdigkeiten der gegenwärtigen Rechtslage. Insbesondere geht er auf die Wirkmächtigkeit der naturrechtlich verkürzten Identifikation von christlicher Ehe mit vertraglich zugesichertem Geschlechtsverkehr ein sowie auf die Inkongruenzen in der Annullierungs- und Auflösungspraxis bestehender Ehen, die sich im Laufe der Rechtsgeschichte entwickelt haben. Abschließend präsentiert er zwei mögliche Lösungsansätze, die dazu beitragen könnten, die kirchliche Lehre und die Lebenssituation der Betroffenen wieder in Einklang zu bringen. Zum einen könnte der zuständige Pfarrer als Rechtsanwender in Abwägung der theologischen und rechtlichen Güter nach einer Gewissensprüfung der Gläubigen eine zweite Ehe als sittliche Größe im Namen der Kirche akzeptieren oder zumindest dulden – und damit den Zugang zu den Sakramenten öffnen. Zum anderen würde sich, wie Markus Güttler herausgearbeitet hat, durch einen Dispens nach dem moralischen „Tod“ der ersten Ehe eine Perspektive für das Eingehen einer zweiten Ehe eröffnen. Was allerdings die Frage nach der Kommunionspendung an wiederverheiratete Geschiedene angeht, betont Schüller mit Verweis auf Klaus Lüdicke, dass dies gerade kein Zeichen von Barmherzigkeit sei – sondern nicht weniger als die ordentliche Erfüllung des kirchlichen Dienstes.
Franz Weber, Pfarrer und emeritierter Innsbrucker Pastoraltheologe, plädiert in seinem Beitrag für eine Pastoral der Wahrnehmung, Anerkennung und Begleitung von wiederverheirateten Geschiedenen, die er dezidiert gegen die Praxis der Exklusion von betroffenen Männern und Frauen stellt. Schließlich sei es eine Grundhaltung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern, Menschen in ihrer je eigenen Lebenssituation wahrzunehmen und ihnen gerade in der Erfahrung des Scheiterns nahe zu sein. Wenn aber eine Ehe scheitert, würden sich viele Betroffene als von den zentralen Lebensvollzügen ausgeschlossen und von der Kirche abgeschrieben erfahren. Sie nehmen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation professionelle Hilfe außerhalb einer Kirche in Anspruch. Die Glaubwürdigkeit von Kirche geht dadurch sowohl bei den Betroffenen wie in der Öffentlichkeit weiter verloren. Seelsorgerinnen und Seelsorger, die sich einer anderen Praxis verpflichten – propter homines , also um der Menschen willen –, fühlen sich im Stich gelassen. Weber will sich nicht damit abfinden, dass der Wunsch nach Seelsorge als – wie ein Betroffener sagt – „die letzte Instanz zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit“ zu oft unerfüllt bleibt. Daher plädiert er dafür, die Sehnsüchte nach Vergebung und Versöhnung, nach einem wieder gelingenden Leben, nach dem Segen Gottes für die neue Partnerschaft und nach einer neuen Beheimatung in der Kirche nicht länger als Orte der Sünde zu brandmarken, sondern als Orte von Gnade und heilender Gottesbegegnung zu würdigen. Nicht nur aus Gründen der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit dürfe man die wiederverheirateten Geschiedenen nicht aus der Kirche und den Gemeinden ausziehen lassen, sondern auch weil sie theologisch und spirituell etwas sehr Wesentliches über die Schöpfungswirklichkeit Mensch, über Fragmentarität und Scheitern und über die tiefe Sehnsucht nach Heil und Heiligung zu sagen haben.
Kardinal Woelki von Berlin hat unlängst Papst Benedikt XVI. verteidigt, der dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der geschieden und wieder verheiratet ist, die Kommunion gereicht hat. Der Papst habe nur so gehandelt, wie jeder Seelsorger handeln würde, der niemanden abweisen wolle. Und der Kardinal weiter: Menschen könnten oft in ihrer zweiten Beziehung das verwirklichen, woran sie in ihrer Ehe gescheitert sind. Es ist zu hoffen, dass diese Auffassung eines Kardinals bald allgemeine kirchliche Praxis wird. Es wäre ein Segen für alle.
1Walter Kasper, Zur Theologie der christlichen Ehe, Mainz 1977, 73 f.
2Ebd., 81.
3In: Theodor Schneider (Hg.), Geschieden – Wiederverheiratet – Abgewiesen? Antworten der Theologie, Freiburg i. Br. 1995, 374.
4Ebd. 375.
5Matthäus Kaiser, Geschieden und wiederverheiratet. Beurteilung der Ehen von Geschiedenen, die wieder heiraten, Regensburg 1983.
6Joseph Ratzinger, Zur Frage nach der Unauflöslichkeit der Ehe. Bemerkungen zum dogmengeschichtlichen Befund und zu seiner gegenwärtigen Bedeutung in: Franz Henrich und Volker Eid (Hg.), Ehe und Ehescheidung. Diskussion unter Christen, München 1972, 35–56, hier 54.
7Schneider (vgl. Fußnote 3), 378.
8Ebd. 394.
9Ebd.
10Ebd. 404.
11Ebd. 408.
12Walter Kardinal Kasper, Katholische Kirche. Wesen – Wirklichkeit – Sendung, Freiburg 2011, 41.
Erfahrungsberichte von Betroffenen
Birgit Bauer *
Den Amtsträgern lege ich ans Herz …
Erfahrungen einer betroffenen Seelsorgerin
Ich bin 59 Jahre alt und lebe seit meiner Scheidung vor sieben Jahren allein. Meine Kinder sind erwachsen und selbständig. Als Wirtschaftsleiterin in einem kirchlichen Unternehmen erfahre ich diesen Arbeitsplatz als ein Stück gelebte Kirche. Ich habe einen wunderbaren Freundeskreis, in dem ich mich gut aufgehoben fühle und wo ich mein Leben mit anderen teilen kann. Seit vielen Jahren engagiere ich mich in der Krisenintervention und Notfallseelsorge. Dort begleite ich auch Sterbende und ihre Angehörigen und auch Frauen in schwierigen Scheidungssituationen. Nach einer Pause von fünf Jahren (in dieser Zeit habe ich mein Studium abgeschlossen) übernehme ich auch wieder Verantwortung im Pfarrgemeinderat.
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