Wie kommen Tellschuss und Rütlischwur, Gessler und Burgenbruch in ein Kanzleibuch? Was soll die Geschichte vom «anefang» der drei «lender» in Verwaltungsschriftgut, zwischen Urkunden, Verträgen und Schiedsgerichtsurteilen?
Als Hans Schriber, der Landschreiber von Unterwalden ob dem Wald, um 1470 mit der Arbeit am Weissen Buch beginnt, ist er bereits 34 Jahre als Landschreiber im Amt. 16Es sind lange, teils turbulente Jahre, in denen er wohl Gelegenheit und Anlass genug gehabt hätte, ein Kanzleibuch zu erstellen. Und doch beginnt er erst 1470, die relevanten Rechtsgrundlagen seiner Arbeit in einem Kanzleibuch zusammenzustellen.
Der Grund dafür liegt auf der Hand. 1470 hat Unterwalden ein Problem, und damit auch der Obwaldner Landschreiber. Kaiser Friedrich III. hat im Sommer 1469 über die Eidgenossen die Reichsacht ausgesprochen. 17Die Eidgenossen verlieren die Ansprüche an allen ihren Regalien, Lehen, Privilegien, Gerichten, Rechten und Gerechtigkeiten. Allen Untertanen des Reiches steht es zu, die Rechte der Geächteten zu behändigen und gegen die Geächteten Krieg zu führen. Hinter der Reichsacht steht Herzog Sigmund von Habsburg. Er will die habsburgischen Rechte in der Eidgenossenschaft wiederherstellen, und zwar mit Waffengewalt.
Denn die Habsburger haben ihre an die Eidgenossen verlorenen Rechte und Besitzungen in den Innerschweizer Orten, in Zug, Luzern, im Aargau und im Thurgau nie aufgegeben. Die Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und den Eidgenossen im 14. und vor allem im 15. Jahrhundert sind kompliziert, alt und blutig. Zum Beispiel stirbt 1386 Herzog Leopold in der Schlacht bei Sempach gegen die Eidgenossen – in den Augen der Habsburger in eigener Angelegenheit, auf eigenem Land, ermordet von eigenen Untertanen. Oder, ein anderes Beispiel: 1412 schliessen Habsburg und die Eidgenossen zwar einen 50-jährigen Frieden. Das hindert die Eidgenossen aber nicht, im Jahr 1415, nachdem Habsburg in Reichsacht gefallen ist, sogleich den gesamten habsburgischen Aargau zu erobern. Mit dem Zürichkrieg, der Eroberung des Thurgaus, der Belagerung von Waldshut oder dem Sundgauerzug wechseln sich Kriege, Verhandlungen und mehr oder weniger erfolgreiche oder gescheiterte Verträge sowie Waffenstillstände ab. Gerade die ins Weisse Buch eingetragenen Verträge und Urkunden zeugen vom Auf und Ab der kriegerischen und diplomatischen Auseinandersetzungen mit Habsburg. Je komplexer und anspruchsvoller die Konflikte, desto mehr Dokumente fallen dabei an – am meisten in den Jahren unmittelbar vor 1470.
Bei den Verhandlungen und gegenseitigen Anschuldigungen führen die Habsburger jeweils ihre Rechtsansprüche ins Feld, verweisen auf die Illegitimität der eidgenössischen Ansprüche und werfen den Eidgenossen – seit der Ermordung von Herzog Leopold 1386 – offene Rebellion vor. Die Eidgenossen reagieren darauf jeweils mit zwei Argumenten. Einerseits betonen sie seit 1420 gebetsmühlenartig den Machtmissbrauch habsburgischer Vögte und Herren, die Misshandlung von Frauen, die Willkür. Anderseits verweisen sie auf ihre alte Reichsfreiheit, auf kaiserliche Privilegien, die bestätigen, dass sie niemand anderem Untertan seien als eben dem römischen König.
Eine solche Urkunde, mit der ein römischer Kaiser oder König die Reichsunmittelbarkeit erteilt, hat Uri tatsächlich bereits 1231 und Schwyz bereits 1240 erhalten. Unterwalden jedoch, und das zeigen gerade die im Weissen Buch zusammengetragenen Urkunden unübersehbar, fehlt ein solches Dokument, und zwar schmerzlich. Auch die späteren Unterwaldner Urkunden, die Reichsunmittelbarkeit bezeugen sollen, sind nicht über alle Zweifel erhaben. Das älteste Dokument, das Unterwalden zur Hand hat und das Hans Schriber 1470 in das Weisse Buch eintragen kann, ist eine von König Heinrich IV. 1309 in Konstanz ausgestellte Bestätigung aller Rechte und Freiheiten, die Unterwalden früher von römischen Königen und Kaisern erhalten habe 18– nur leider gibt es diese Freiheitsbriefe, auf die sich die Bestätigung bezieht, gar nicht. 19Die nächst jüngere Bestätigung der Unterwaldner Reichsfreiheit, 1316 von König Ludwig dem Bayern ausgestellt und von Hans Schriber ebenfalls in das Weisse Buch eingetragen, verweist auf 1240 von Kaiser Friedrich II. und 1291 von König Rudolf von Habsburg ausgestellte Freiheitsbriefe 20– nur sind diese eben leider ausgestellt für Schwyz, nicht für Unterwalden. 21
Und das ist 1470 ein echtes Problem. Im Reichsachtverfahren 1468 und 1469 gegen die Eidgenossen hat sich gezeigt, dass die Habsburger beeindruckend dokumentiert sind und ihre Rechtsansprüche erschreckend gut belegen können. 22Zwar haben die Eidgenossen 1415 bei der Eroberung des habsburgischen Aargaus auch das Archiv der Habsburger erobert und alle wichtigen habsburgischen Unterlagen konfisziert oder gleich vor Ort zerstört. Aber dennoch kann die Habsburger Kanzlei 1469 in Innsbruck eine achtzig Seiten starke Sammlung einerseits der habsburgischen Rechtsansprüche und anderseits der eidgenössischen Rechtsbrüche von den Anfängen bis 1468 vorlegen, welche die Eidgenossen in Reichsacht bringt. 23Eine Reichsacht ist kein abschliessendes Urteil, sondern auch eine Aufforderung und Gelegenheit für die Geächteten, sich innert Jahresfrist zu rechtfertigen und die Rechtmässigkeit der eigenen Position mit guten Argumenten zu begründen. 24Das ist offenbar der Anlass, der den Obwaldner Landschreiber Hans Schriber dazu bewegt, die relevanten Rechtstitel, Bündnisverträge und Schiedsgerichtsurteile in einem Kopialbuch zusammenzustellen und eben das Weisse Buch von Sarnen anzulegen. 25
Ein Landschreiber weiss, was in Verhandlungen ein gutes Argument ist. Ein Landschreiber wie Hans Schriber, der schon seit Jahrzehnten mit dabei ist und die Realpolitik im Heiligen Römischen Reich des 15. Jahrhunderts genau kennt, der weiss auch, wann die Argumente schwach sind.
Der chronikalische Text im Weissen Buch von Sarnen beginnt so: «Jtem / der anefang der drÿer lendern Uri Switz und vnderwalden / wie sy da har gar Erlich komen sind Zum Ersten / So ist vre das erst / land das von eim römschen rych enpfangen hat / das jnnen gönnen ist / da ze rüten vnd da ze wönen / Dem nach so sind römer kömen gan vnderwalden / den hat das römsch rych oüch da gönnen ze rüten vnd da ze wonen / des sind sy gefryet vnd begabet / Dar nach sind kömen lüt von Sweden gan Swytz das dera da heim ze vil was / die enpfiengen von dem römschen rych die fryheit / vnd würden begabet da ze bliben ze rüten vnd da ze wonen (…).» 26
Reichsfreiheit für alle drei also, vergeben schon zu Zeiten des antiken Rom, zunächst an die Urner, dann an die Unterwaldner, die eigentlich Römer sind, und an die Schwyzer, die aus Schweden nach Schwyz gekommen sind.
Weiter im Text zu den Landvögten Gessler und Landenberg: «Denen ward nu die vogty verluwen / das sy die lender mit truwen sollten bevögten zu des richs handen / Sy taten aber das nit / denn das sy je lenger je strenger wurden / vnd (…) taten den lüten grossen trang an / sy beschatzten ein hie / den andern da / vnd triben grössen mütwillen vnd anders denn sy gelöbt und verheissen hatten / vnd giengen tag vnd nacht da mit vmb wie sy die lender vom rich bringen möchten ganzt in jren gewalt (…).» 27
Die in den drei «lendern» eingesetzten Vögte herrschen anders, als sie gelobt haben, nämlich mutwillig, willkürlich, missbräuchlich, moralisch verwerflich, illegitim. Gipfel der Bösartigkeit und damit der Illegitimität: Einer der bösen Vögte zwingt einen Vater, das Leben seines Sohnes aufs Spiel zu setzen, es kommt zu Tells Apfelschuss. Tell rächt sich, muss, darf sich rächen, indem er den adligen Landvogt in der Hohlen Gasse erschiesst. Vor allem aber wollen die Vögte «die lender vom rich bringen (…) ganzt in jren gewalt». Die Vögte wollen diese Länder, die Teil des Römischen Reiches sind, die also dem Kaiser gehören, aus dem Reich lösen und vollständig in ihre Gewalt bringen. Für tapfere, reichstreue Untertanen des Kaisers ist es geradezu eine Pflicht, die tyrannischen Vögte zu verjagen und die drei Länder für das Reich zu retten.
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