In den kommenden Stunden ging alles so weiter, Meike meldete sich immer mehr, er nahm sie auch ab und zu mal dran, einfach, damit sie nicht ausstieg. Die Antworten waren nicht ganz so klar und umwerfend, wie Dr. Poggemeier berichtet hatte, mitunter eher etwas zurückhaltend, vielleicht hatte er sie ja doch etwas verunsichert mit seiner Ehrlichkeit.
Aber dann kam der erste Biologietest, er fiel durchschnittlich aus, Herr Gauss hätte seine Freude gehabt. Bloss, dass Meike nicht die beste Arbeit hatte. Es hatte nur zu einer Zwei gereicht, einer soliden Zwei, aber mit Abstand die Beste und so weiter, davon war nichts zu sehen.
Irgendwas musste hier passiert sein. Denn als er die Arbeit wiedergab und die Mitschülerinnen und -schüler sahen, was für eine Note Meike hatte, wurde das, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, kommentiert: «Oha, ne Zwei. Die Meike.» Oder: «Na, da hätte wohl keiner mit gerechnet.» Meike sass nur da und starrte ungläubig auf den Zettel. Bevor er sie aber nach der Stunde dazu befragen konnte, war sie schon draussen.
Tatjana, die ihm mal wieder half, den Klassenraum aufzuräumen, goss gerade die Blumen auf der Fensterbank. «Tatjana, du musst mir jetzt mal eins sagen: Was ist denn mit Meike los? Die war ja total überrascht, als ich ihr den Test wiedergegeben habe.» Tatjana, die weiter die Pflanzen pflegte, meinte nur: «Ach, das wäre ich an ihrer Stelle wohl auch gewesen.» «Die hat sonst noch nie eine Zwei geschrieben, oder?» «Nee, soweit ich mich erinnere, war das das erste Mal.» Funk stand jetzt ratlos vor der Tafel: «Aber sie war doch sonst immer Klassenbeste, hab ich da was falsch gemacht?» Jetzt drehte sich Tatjana um: «Klassenbeste? Meike? Niemals! Die war doch sonst immer bei ’ner Vier.» «Aber Herr Dr. Poggemeier, euer alter Lehrer, hat mir doch gesagt, dass die Meike mit Abstand die Beste in Biologie war.» Tatjana, immer noch die Giesskanne in der Hand, starrte ihn an, bis sie laut loslachte: «Ach so, nein, Herr Dr. Poggemeier hat die andere Meike gemeint, die war so unheimlich gut in Biologie, aber die ist doch im Sommer ganz überraschend mit ihren Eltern weggezogen.»
Funk ging nach der Stunde beschämt nach Hause und fragte sich, ob er Meike wegen des Missverständnisses zu gut bewertet hatte. Aber als er den Test noch einmal ganz genau durchlas, war das Ergebnis wieder eine Zwei. Und auch sein Kollege, den er um eine Zweitkorrektur bat, kam zu keinem anderen Ergebnis.
Funk freute sich durchaus für Meike, auch wenn ihm nicht ganz klar war, was hier passiert war.

Herr Funk fragt sich, warum Meike plötzlich gut in Bio ist. Licht in die Sache könnten ein paar alte Studien des amerikanischen Psychologie-Professors Robert Rosenthal bringen. In den 1960er-Jahren liess er Studenten mit Ratten experimentieren. Sie sollten die Leistungen von genetisch identischen Laborratten messen. Glaubten sie, Ratten vor sich zu haben, die auf «superschlau» gezüchtet waren, zeigten ihre Messungen genau das an. Meinten sie, es mit genetischen «Dummerchen» zu tun zu haben, sahen sie nur Unfähigkeit.
Nun ging Rosenthal einen Schritt weiter. Seine nächste Studie nahm nicht Ratten und studentische Versuchsleiter, sondern Grundschulkinder und ihre Lehrpersonen ins Visier. Dabei absolvierten kalifornische Schüler einen neuen IQ-Test. Ihren Lehrern wurde erzählt, es handele sich um einen Test, der schulische Entwicklungsschübe voraussage. Und wie erwartet kamen die Forscher mit einer Liste von Namen zurück. Was die Lehrpersonen nicht wussten: Welcher Name auf der Liste landete, entschied nicht der Test, sondern der Zufall. Aus jeder Klasse wurden 20 Prozent der Schüler ausgewählt. Die Lehrer sollten von diesen einen unmittelbar bevorstehenden Entwicklungsschub erwarten dürfen. Und nun begann in den Klassenzimmern das eigentliche Experiment. Was in den acht Monaten bis zur nächsten Testung genau geschah, weiss man nicht. Aber es ähnelte wohl dem, was Meike und ihr neuer Lehrer erlebt hatten. Wenn ein Listenkind Fragen halbrichtig beantwortete, wurden diese als zutreffend bewertet. «O. k., ich denke, du meinst hier das Richtige, auch wenn es jetzt vielleicht nicht ganz so rausgekommen ist. Ich fass das noch mal zusammen …» So wie Meike von Herrn Funk bestärkt wurde, wurden auch die Listenkinder womöglich durch diese und ähnliche Begebenheiten ermuntert. Sie beteiligten sich stärker am Unterricht und lernten in diesen Monaten: Ich kann das. Ich bin gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält was von mir.
Dann wurden die IQ-Tests noch mal durchgeführt. Es wurde berechnet, wie viel schlauer jedes Kind geworden war. Bei den Erstklässlern war der Unterschied am markantesten: Die Listenkinder hatten durchschnittlich 27 Punkte zugelegt, ihre Klassenkameraden nur 12. Ein satter Unterschied von 15 IQ-Punkten.
15 IQ-Punkte haben oder nicht – das macht schon was aus. Es holt den einen von der Sonderschule, es bringt die andere aufs Hochbegabtengymnasium. Wie entstehen solche Unterschiede? Liegt es an dem Bild, das die Lehrperson vom Schüler hat? Möglicherweise hatten die Lehrkräfte von den Kindern, deren Namen auf der Liste standen, ein positiveres Bild. Da ein Entwicklungsschub angekündigt worden war, überschätzten sie deren Leistungen. Und bewerteten zu gut. Aber in der Geschichte von Meike macht sich der Lehrer die Mühe, noch einmal die Arbeit zu kontrollieren. Er kommt dabei zum selben Ergebnis! Und in der Studie von Rosenthal wurden die Leistungstests von Externen ausgewertet. Die wussten nicht, für welches Kind ein Entwicklungsschub vorausgesagt worden war. Die Bewertung der Lehrer erklärt also kaum, warum die Listenkinder locker doppelt so gut abschnitten wie ihre Klassenkameraden. Ein anderer Grund für diese Unterschiede ist das Bild, das die Schüler von sich selbst haben.
Was haben Optimist und Pessimist gemeinsam? Sie haben beide recht! Wenn die Schülerin optimistisch meint: «Ich kann das. Ich bin gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält was von mir», wird sie bei der Aufgabe so lange probieren und sich bemühen, bis sie den Dreh gefunden hat. Wenn der Schüler pessimistisch denkt: «Ich kann das nicht. Ich bin nicht gut in der Schule. Sogar mein Lehrer hält nichts von mir», wird er sich bei der Aufgabe nicht lange bemühen. Es hat doch alles sowieso keinen Zweck. Selbstbilder bestätigen sich auf diese Weise in einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Rosenthals Experiment funktionierte bei den älteren Jahrgängen nicht mehr so gut wie bei den Erst- oder Zweitklässlern. Möglicherweise sind gefestigte Selbstbilder dafür verantwortlich. Bei einem gefestigten negativen Selbstbild («Ich kann das alles nicht») hilft auch eine Lehrperson wenig, die auf einen Entwicklungsschub wartet.
Angenommen, ein Schüler denkt: «ICH KANN EINFACH KEIN MATHE!!!!! Diese Vier in Mathe versaut mein Zeugnis und ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll! Ich kann nämlich nicht mathematisch denken. VERDAMMT, ICH KANN’S NICHT.» Was passiert dann? Schon bei dem Gedanken an eine Mathearbeit schaltet sich das Stressnetzwerk in seinem Gehirn an und das Frontalhirn stellt sich aus. Es fällt ihm sogar schwer, zwei plus zwei zusammenzuzählen. Nicht, weil er es nicht kann, sondern weil er unter Stress steht. Wer meint, unsportlich zu sein, weil er dick ist, wird sich vor Sport drücken. Wer als Afroamerikaner immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert ist, dumm und faul zu sein, wird sich kaum um Fleiss bemühen. Und auch nicht um Verständnis.
Schon der Gedanke an ein Vorurteil kann die eigene Leistung torpedieren. Das zeigte eine Studie, bei der junge Frauen Matheaufgaben lösen sollten. Manche von ihnen lasen zuvor einen Text zu genetisch bedingten Unterschieden bei Matheleistungen. Männer seien halt anders als Frauen, hiess es da. Das liege in den Genen. Deshalb könnten sie auch besser Mathe. Andere Frauen lasen einen Text, der solche Unterschiede auf die Lehrpersonen zurückführte. Mathelehrer behandelten Mädchen eben anders als Jungen, wurde dort erklärt. Deshalb seien Männer besser in Mathe. Die Frauen, die die erste Begründung gelesen hatten, schnitten schlechter ab. Dabei waren die Gruppen eigentlich gleich gut. Aber der Text hatte das Vertrauen der Frauen in ihr Können erschüttert. Der Gedanke, als Besitzerin zweier X-Chromosomen Mathematik eben nicht so gut zu können, führt genau dazu: zum «Eben-nicht-so-gut-Können». Wer also denkt, etwas nicht zu können, weil er so ist, wie er ist, stellt sich damit selbst ein Bein.
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