Versucht man, dieses Bild der beiden Erdpole noch stärker zu konturieren und sich dazu vorzustellen, dass das nördliche Polarmeer 4000 Meter eingesunken und das südpolare Festland beinahe 3000 Meter hoch ist, sodass eine Höhendifferenz von 7000 Metern besteht – bedenkt man ferner, dass im Norden ein von Ufern umgebenes Meer, im Süden aber eine vom Meer umgebene riesige Insel vorhanden ist, dann wird dieser Gegensatz in seiner Urbildlichkeit noch greifbarer. Der Nordpol ist ein See, von den Ufern der großen Kontinente umsäumt. Der Südpol wird zur Insel, von mächtigen Ozeanen umbrandet.
See und Insel werden zu den beiden Urgestalten, die immer neu und in fast unendlicher Variabilität die Landschaft der Erde formen. Die Ur-Insel ist der Südpol. Der Ur-See ist die Arktis, und aus beiden Bereichen schiebt sich die formende Kraft in alle übrigen Erdgebiete hinein. Man möchte fast sagen, dass alle Inseln, wo immer sie auch liegen, Kinder der Antarktis sind. Die Seen aber, so klein oder groß sie auch sein mögen, sind die Geschöpfe des nordpolaren Einbruchbeckens. Die Insel, jede Insel, ist ein aus dem umgebenden Wasser herauskristallisiertes, verdichtetes Stück Erde. Die im flüssigen Element lebenden Kräfte konzentrieren sich auf einen Mittelpunkt hin und backen die Insel heraus. Der See aber ist ein Auflösungsprozess, der sich im Zentrum des harten Erdreichs bildet. Aus seinem Mittelpunkt strömen die verflüssigenden Kräfte hinein in die umgebenden Ufer und tragen in Jahrtausenden Felsen und Berge ab.
Die Insel ist ein Erde-Werden; der See ein Entwerden, ein Erde-Vergehen. Verdichtung und Auflösung leben in diesen beiden Gestalten. Der Nordpol ist alt; dort löst die Erde sich auf. Von dort atmen die Eiszeiten in den Strom der Evolution hinein, überdecken die nördlichen Kontinente für Jahrhunderte mit Eis und ziehen sich dann wieder zurück, zur Urmutter aller Seen. Vom Südpol hingegen strömen die verdichtenden Insel-Kräfte in die Erde hinein. Sie halten die Kontinente zusammen und geben dem Erdreich seine verhärtenden Eigenschaften.
Auflösung strömt aus dem Norden; sie aber wird von den mächtigen Landmassen der Kontinente im Gleichgewicht erhalten, damit die Erde nicht völlig verflüssigt werde. Verdichtung wirkt aus dem Süden; die Wassermassen der Ozeane stellen sich dieser gigantischen Macht entgegen, damit nicht die Erde ganz verhärte.
Das sind die Gegensätze der beiden Polargebiete. Die quellende Schönheit der Seen, die ein träumendes, ahnendes Element in jede Landschaft hineingießen, da der Himmel sich in ihren Wassern spiegelt und darin sich selbst erblickt, stammt aus dem Norden. Die verhärtende Strenge, die ein Grundcharakter aller Inseln, die den Wassern Halt geben, ist, und die dem Himmel nicht einen Spiegel, sondern eine Faust entgegenstrecken, kommt aus dem Süden. Die Erde wird eigenständig und lehnt sich gegen den Himmel auf.
Die Pinguine sind Geschöpfe dieser eigenwilligen Kräfte. Sie versammeln sich im Wirkungsgebiet der Erdverdichtung und Inselbildung.
Warum fühlen wir uns, wenn immer wir den Pinguinen begegnen, ein wenig über sie erhaben und drücken das in einem leisen Lächeln aus? Auch wenn wir an diese kleinen, sich aufrecht haltenden Tiere denken, empfinden wir eine Art tragikomischen Mitgefühls für sie. Ist es die Karikatur des Vogels, die uns veranlasst, den Pinguin zu belächeln? Er ist ein Vogel und ist wieder keiner; denn fliegen kann er nicht und die beiden Flügel sind verkümmerte Stummel, die gleich missgebildeten Armen mit Schuppenfedern bedeckt, hilflos auf und ab bewegt werden. Streckt der Pinguin diese Arme aus, dann wird es eine kümmerliche Geste; denn niemals – das sieht man ihnen an – könnten die Stummelglieder den runden Leib in die Luft hinaufheben. Dass dieser Vogel nicht fliegen kann, macht ihn aber nicht zur lächerlichen, sondern zur tragischen Gestalt.
Die Komik, die von ihm ausgeht, hat eine andere Wurzel. Liegt sie nicht dort, wo der Pinguin versucht den Menschen nachzuahmen? Statt zu fliegen, stellt er sich, wenn er an Land geht, aufrecht hin, fängt zu schnattern und zu schreien an und nimmt sich so wichtig, als wäre er wirklich jemand. So erscheint es uns; und deshalb verzieht sich unser Mund zum Lächeln. Es ist, als würde ein Fisch, dem die Bauchflossen zu Füßen geworden sind, an Land steigen und aufrecht dort herumstolzieren. Der Pinguin ist eigentlich ein zum Fisch umgewandelter Vogel. Sein Reich ist das Wasser; und dort ist er ganz zu Hause. In Brehms Tierleben heißt es:
Meist schwimmen sie unter Wasser etwa 30 m weit, dann springen sie, vermutlich um Luft zu holen, wie kleine Delphine bis 30 cm über die Oberfläche empor und verschwinden nach einem 60 bis 80 cm weiten Satz wieder im Wasser. Bei dieser Bewegungsart bedienen sie sich nur der Flügel; sie fliegen gleichsam im Wasser … Dabei bewegen sie sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit durch die Flut, nach Chun so rasch, dass sie den in Fahrt begriffenen Dampfer mit spielender Leichtigkeit überholen. 5
Bei Gerlach lesen wir:
Mit ihren Flügeln können sie nicht mehr fliegen: dafür führen sie die Flugbewegung mit ihnen unter Wasser aus. Die Flossenflügel drehen sich in geschwinder und weiter Schwingung und machen bis zu zweihundert Schläge in der Minute. Die Pinguine sausen wie im Fluge unter Wasser dahin und legen zehn Meter in der Sekunde zurück. 6
Sie können also leicht in zwei Minuten einen Kilometer und in einer Stunde 30 Kilometer schwimmend zurücklegen. Ist es dann zu verwundern, dass es noch immer nicht zu ergründen ist, wohin sie ziehen, wenn sie mit ihren herangewachsenen Jungen die Inseln verlassen und ins Meer hinein verschwinden? Vielleicht sind alle südlichen Meere bis zum Äquator hinauf ihr Lebensgebiet. Wir wissen es nicht; aber das Wasser ist ihre rechte Heimat.
Kommen sie an Land, um ihre Eier zu legen und auszubrüten, dann beginnen wir erst sie komisch zu finden. Denn nun nehmen sie, wie in der Rückerinnerung, das Vogelleben an; Männchen und Weibchen finden einander, bauen Nester, und ein ehrbares Familienleben beginnt. Aus einem ziehenden Jäger ist ein gesetzter Bürger geworden. Ein Fisch verwandelt sich in einen Vogel.
Durch den aufrechten Gang, die seltsame Zeichnung und Färbung des Federkleides, mit weißer, über den Bauch reichender Hemdbrust und schwarzem, frackähnlichem Rücken, wird diese Bürgerlichkeit noch deutlich unterstrichen. Dazu stehen sie zu Tausenden zusammen, schwätzen, schnattern, stoßen einander, nehmen sich gegenseitig die Steine, die sie zum Nestbau nötig haben, fort; rauben sich auch gelegentlich die Gattin und das wohlbehütete Ei, sind aber trotzdem gute Eheleute und treubesorgte Eltern. Diese heute schon genau beobachteten und ausführlich beschriebenen Eigenschaften machen den am Land weilenden Pinguin zur komischen Figur. Er muss ein Vogel sein und kann es doch nicht; denn es fehlen ihm die Flügel, und er ist deshalb an die Erde gebunden. Um diesen Mangel zu überkommen, versucht er menschenähnlich zu sein. Dieses Wagnis jedoch ist kläglich gescheitert. So lebt der Pinguin ein missglücktes Dasein, verurteilt dazu, die Hälfte des Jahres die Heimstatt der Meere zu verlassen, an Land zu steigen und eine Zwischenform darzustellen, sich seines einstmaligen Vogellebens zu erinnern und es zu wiederholen und gleichzeitig aufrecht wie ein Mensch herumzustehen und doch keiner sein zu können. Wer erinnerte sich da nicht an Fluch- und Zaubersprüche, die Menschen in Tierleiber hineinbannen oder Wesen dazu verurteilen, einen Teil ihres Daseins an Orten zu verbringen, die ihnen zur Qual werden? Wie Demeters Tochter einst ins Reich der Unterwelt beschieden wurde und nur für wenige Monate ans Licht kommen darf! Ähnliches liegt im Leben der Pinguine verborgen und wird mit der Maske der Unvollkommenheit und Komik verdeckt. Hat Kirke, die zaubermächtige Tochter des Helios, hier ihre Hand im Spiel gehabt?
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