Nach Auswertung der PISA-Studie aus dem Jahr 2006 kam man zu dem vielsagenden Schluss, dass es sich offensichtlich auszahlt, „gründlich relevante Bedingungen zu untersuchen und Neues zu wagen“ (PISA, Hrsg. 2007, 30). Die vorliegende Arbeit kann vielleicht einen Beitrag dazu leisten. Die diversen Befunde sollten allerdings Anlass sein, nicht nur die Bildungspolitik, sondern auch die Familien- und Sozialpolitik auf den Prüfstand zu stellen (Sacher 2005, 49), denn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch immer ein Problem und wird durch ein Betreuungsgeld sicher nicht gelöst. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte nach der Veröffentlichung des nationalen Bildungsberichts im Juni 2008 die Bildungspolitik zur Chefsache erklärt und die „Bildungsrepublik Deutschland“10 ausgerufen. Man darf also (weiterhin) gespannt sein!
1.4 Heterogenität in Schule und Unterricht: Dilemma oder Chance?
Der Sinn von Freiheit ist ja schließlich Differenz (Winfried Kretschmann)
In den vergangenen Jahren sind – maßgeblich initiiert durch die enttäuschenden Ergebnisse der PISA-Studien – eine Reihe an Publikationen zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht erschienen, obwohl dieses Thema in der bildungspolitischen und schulpädagogischen Diskussion alles andere als neu ist, denn schon im ausgehenden 18. Jahrhundert beklagte Johann Friedrich Herbart (1776-1841), Verfasser der ersten Allgemeinen Pädagogik, „die Verschiedenheit der Köpfe“ als Hauptproblem des Unterrichts (Tillmann/Wischer 2006, 44), wohingegen viele Ansätze aus der Reformpädagogik genau diese Verschiedenheit zu nutzen und zu fördern versuch(t)en. Dennoch hat in Deutschland die Ausrichtung des Unterrichts auf die „Mittelköpfe“ seit Ernst Christian Trapp (1745-1810) eine lange Tradition, und Lernende, „die in ihrem Entwicklungs- und Kenntnisstand außerhalb dieses Bereichs liegen, laufen Gefahr, zu ‘Problemfällen’ zu werden“ (Tillmann 2004, 7).
Auch Wenning (2013) diskutiert die Frage, ob die zunehmende Thematisierung von Heterogenität „nur eine Mode ist [oder] ein Symptom für eine bestimmte Reaktionsform auf (gesellschaftliche) Abweichungen darstellt“ (Ebd., 128), und ob die festgestellte Heterogenität schon vorhanden oder in der Schule erst konstruiert bzw. produziert wird (Ebd., 134ff.). Die Beiträge in Budde (Hrsg.) (2013) beschäftigen sich mit der (berechtigten) Frage der (Re-)Produktion von Heterogenität in der Schule.1
Fakt ist, dass in Fachkreisen derzeit intensiv diskutiert wird, ob Heterogenität als Dilemma und Lernhindernis oder als Chance und Bereicherung bewertet werden soll.2 Auch Fragen hinsichtlich Chancengleichheit, individueller Förderung, Möglichkeiten der Binnendifferenzierung, Koedukation3, Hochbegabtenförderung4, Umgang mit Kindern aus Migrantenfamilien oder Möglichkeiten der Integration bzw. Inklusion von behinderten Kindern5 tauchen in diesem Zusammenhang immer wieder auf. Meist bezieht man sich bei dem uneinheitlich verwendeten Begriff „Heterogenität“ allerdings auf kognitive bzw. entsprechende leistungsbezogene Unterschiede in einzelnen Fächern und blendet andere Merkmale weitgehend aus.6 Doch wie heterogen bzw. homogen sind Lerngruppen im deutschen Schulsystem eigentlich?
Obgleich in Deutschland Kinder und Jugendliche schon immer unterschiedliche Voraussetzungen und Bedürfnisse in die Klassenzimmer mitgebracht haben und es diesbezüglich auch schon in der Vergangenheit Diskussionen in den Erziehungswissenschaften gab, erstaunt hier umso mehr, „dass das deutsche Schulsystem nach wie vor von der paradigmatischen Idealvorstellung einer homogenen Gruppe, die ohne störende Einflüsse von innen und von außen im Lernen vorwärts kommen soll, bestimmt wird“ (Boller u.a. 2007, 12). Erschwerend kommt hinzu, dass vielfach noch immer von einem Schülerbild ausgegangen wird, „das längst nicht mehr allein der Wirklichkeit an unseren Schulen entspricht: deutschsprachig, mit christlichem Hintergrund, aus intakter Familie“ (Kluge 2003, 89). Divergenz wird als störend und somit negativ empfunden. Wenning (2013, 149) kritisiert zu Recht „einen, bewusst oder unbewusst, diskriminierenden Umgang mit Verschiedenheit“.
Obwohl lange bekannt und oft belegt ist, dass die vergleichsweise frühe Auslese ( tracking ) und Verteilung im hierarchisch gegliederten Schulsystem zahlreiche Probleme mit sich bringt, dominiert im Umgang mit Heterogenität noch immer die Strategie der äußeren Differenzierung nach Leistung, was jedoch zwangsläufig auch eine (inoffizielle) Selektion nach sozialen und ethnischen Merkmalen nach sich zieht (Tillmann/Wischer 2006).7 Somit fungiert die Schule hinsichtlich Lebenschancen nicht – wie grundsätzlich anzunehmen – als Türöffner im Sinne der Gleichberechtigung für alle, sondern reproduziert und verfestigt die bereits bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten und Machtverhältnisse noch mehr.
In der Tat wird in unserem gegenwärtigen Schulsystem mit unterschiedlichen organisatorischen Maßnahmen wie Späteinschulungen, Verteilung auf die unterschiedlichen Schulformen, Sitzenbleiben oder Schulformwechsel8 immer wieder versucht, durch Reduzierung der Leistungsunterschiede Homogenität in Lerngruppen herzustellen, „dass eine Passung zwischen Lerngruppe und Lernangebot erreicht wird“ (Trautmann/Wischer 2007, 44), allerdings ohne zu hinterfragen, ob dies überhaupt von Vorteil für die Lernenden ist. Hintergrund ist die Ansicht, dass sich Lernen in homogenen Gruppen besser organisieren lasse und somit „die Lehrkraft auch für alle den gleichen (frontalen) Unterricht machen“ kann (Tillmann/Wischer 2006, 44). Andererseits erstaunt (übrigens auch die PISA-Autoren), dass vor allem deutsche Lehrkräfte immer wieder über die „große Leistungsheterogenität in Sekundarschulen“ (Ebd., 45) und die damit verbundenen Belastungen klagen, obwohl der internationale Vergleich zeigt, dass es auf Grund der horizontalen Gliederung des deutschen Bildungswesens „kaum leistungshomogenere Sekundarschulen als in Deutschland“ gibt (Ebd.). Warum also empfinden gerade Lehrkräfte im hochselektiven Sekundarbereich Heterogenität als besondere Belastung (Wenning 2013, 130)?9
Doch der Schein trügt, denn jede Schulform weist in sich eine große Leistungsstreuung auf, und auch die einzelnen Klassen des gegliederten Schulsystems sind in sich wiederum stark leistungsheterogen, so dass die Homogenität der Lerngruppe „eine Fiktion“ bleibt (Tillmann/Wischer 2006, 45). Laut Sacher (2005, 44) ist das deutsche Schulsystem „offensichtlich nicht das Instrument“, um wirklich eine Homogenisierung der Lernenden herzustellen. Gerade auch durch die DESI-Studie (DESI, Hrsg. 2008) wurde im Fach Englisch eine große Leistungsheterogenität in allen Schularten bestätigt. Bedauerlich ist vor allem die Tatsache, dass diese institutionelle Fiktion viele Opfer fordert und auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen wird, denn circa ein Viertel aller Schülerinnen und Schüler bleibt bis zur 10. Klasse mindestens einmal sitzen (von Saldern 2007, 43).10 „Problemfälle“ müssen eine Klasse wiederholen, die Schule wechseln oder diese sogar gänzlich ohne Abschluss verlassen, was weder aus lernbiographischen noch aus wirtschaftlichen Gründen vertretbar ist.11
Untersuchungen belegen (und erklären auch die Ergebnisse der PISA-Studien): „Wir haben die homogensten Gruppen und zugleich die größte Leistungsspreizung, verbunden mit den negativsten Werten für soziale Koppelung (...): Im Umgang mit Heterogenität erhalten deutsche Schulen die Note mangelhaft“ (von der Groeben 2007, 6). Im Rahmen der Diskussionen um eine zukunftsfähige Bildungspolitik muss also dringend der Frage nachgegangen werden, welche Vor- und Nachteile unser gegliedertes Schulsystem auszeichnen, denn offensichtlich ist es „historisch entstanden und wurde – soweit bekannt – niemals pädagogisch begründet“ (von Saldern 2007, 43). Darüber hinaus zeigt sich im Vergleich mit anderen Ländern, wo Kinder und Jugendliche mitunter bis zur 9. oder 10. Klasse in einer Einheitsschule gemeinsam lernen, dass die bewusste Homogenisierung von Lerngruppen eben nicht den gewünschten positiven Effekt zu haben scheint: „Ganz im Gegenteil scheint vielfach sogar eher eine bewusste Heterogenisierung von Lerngruppen einen besseren und klügeren Weg zum Erfolg darzustellen – insbesondere wenn es um Lernziele geht, die über die Ebene des reinen Wissenserwerbs hinausgehen“ (Ebd., 50).12
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