Ob Hahnenkampf, Hochzeit oder hinduistisches Ritual: Dichte Beschreibungen gehen von einem örtlich und kulturell klar definierten, geradezu ‚umhegten‘ performativen Phänomen aus, um es dann in eine semantische Beziehung zu dem es bestimmenden Kulturgefüge zu setzen. Es gilt – wenn man es so will – das Prinzip der raumzeitlichen Kontiguität. In diesem engen Geflecht besteht auch die Affinität zur theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse, die von einer Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern ausgeht. Der Hahnenkampf-Essay von Geertz erschien Anfang der 1970er Jahre, Milton Singers Arbeiten über Cultural Performanceein Jahrzehnt früher,4 Victor Turners einschlägige Arbeiten in den 1970er und 1980er Jahren.5 Wenn wir heute die Beziehung zwischen Theater und Ethnologie betrachten wollen, müssen wir selbstredend an die aktuellen Ansätze der Ethnologie anknüpfen. Dem Thema der Tagung folgend, geht es darum, eine theaterfremde Wissenschaft, die Ethnologie, auf den Gegenstand ‚Theater‘, vor allem auf die interkulturell bzw. global erweiterten Spielformen von Theater zu applizieren. Meine Überlegungen hierzu gehen von drei ‚Wenden‘ innerhalb der Ethnologie aus, die das frühere Modell, wenn nicht in Frage stellen, so doch methodologisch und epistemologisch neu konturieren. Die erste Wende heißt ‚multi-sited ethnography‘ und steht vor allem mit einem Aufsatz von George Marcus aus dem Jahr 1995 in Verbindung: „Ethnography in/of the World system: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“. Anstelle einer Perspektive, die sich einem einzigen Ort widmet – „intensively-focused-upon single site of ethnographic observation and participation“ – tritt ein Fokus auf multiple, oft geographisch entfernte Lokalitäten, die mit einander in Verbindung stehen.6 Der von Marcus als „world system“ betitelte Begriff signalisierte eine Auseinandersetzung mit Globalisierung und dem Befund, dass die Kulturen, für die sich die Ethnologie üblicherweise interessiert, nicht mehr dort sind, wo sie hätten sein sollen bzw. manchmal dort sind, aber auch woanders. Der Dorfbewohner aus Kerala ist ein Gutteil des Jahres in den Golf-Staaten als Wanderarbeiter unterwegs, der junge Samoaner versucht sein Glück als Rugby-Spieler in Japan. Mit anderen Worten fordert Marcus, die Ethnologie müsse methodisch und theoretisch auf die von Arjun Appadurai Anfang der 1990er Jahre beschriebenen „five dimensions of global cultural flow (…) ethno-, media-, finance-, techno- und ideocapes“ reagieren: These landscapes thus are the building blocks of what (extending Benedict Anderson) I would like to call imagined worlds, that is, the multiple worlds which are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe.7 Die multiplen Welten der kulturellen Globalisierung stellen die Ethnographie vor besondere Herausforderungen angesichts deren „committed localism“: „Ethnography is predicated upon attention to the everyday, an intimate knowledge of face-to-face communities and groups.“8 Der Fokus auf das Lokale verbindet die Ethnologie mit der Theaterwissenschaft, die ebenfalls einem ‚committed localism‘ verpflichtet ist, und zwar in Form von ‚face-to-face-communication‘ und Gemeinschaftsbildung, die beispielsweise Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen9 vielfach beschrieben hat. Wie soll sich aber die Theaterwissenschaft neu positionieren, wenn auch im Theater die gleichen Bedingungen der multi-sitednessvorherrschen wie von Marcus beschrieben? Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, physical presence, with an explicit, posited logic of association or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography.10 Um diesen Pfaden, Verbindungen und Schnittstellen gerecht zu werden, schlägt Marcus eine andere Vorgehensweise vor: ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour heißt es, Dingen, Geschichten, Metaphern und Menschen zu folgen: „Strategies of quite literally following connections, associations, and putative relationships are thus at the very heart of designing multi-sited ethnographic research.“11 Die zweite Wende betrifft die Form der wissenschaftlichen Repräsentation und Präsentation, die auch ethische und ideologische Implikationen hat. Dahinter steht eine von der postkolonialen Theorie formulierte Fundamentalkritik an den Modi wissenschaftlicher Wissensaneignung und -darstellung, die auf eine Verfestigung kolonialer Verhältnisse hinausläuft. Wie kann man die alten, der kolonialen Weltanschauung inhärenten Dichotomien wie eigen/fremd, them and us usw. überwinden? Deshalb fragt der Ethnologe und Theaterwissenschaftler Dwight Conquergood: What are the rhetorical problematics of performance as a complementary or alternative form of „publishing“ research? What are the differences between reading an analysis of fieldwork data, and hearing the voices from the field interpretively filtered through the voice of the researcher?12 Dies führt schließlich zu der Überlegung, die man als eine Art performativer Wende innerhalb der Ethnologie bezeichnen könnte, die aber analog auf die performance studieszurückwirkt: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“13 Diese wohl radikalste Perspektive wirft grundlegende epistemologische Fragen auf hinsichtlich der Darstellung wissenschaftlichen Wissens und der Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen dem wissenschaftlichen Beobachter und dem Gegenstand dieser Beobachtung. Kann eine Aufführung herkömmliche, ‚objektive‘ Formen wissenschaftlichen Schreibens ersetzen oder zumindest als ebenbürtig betrachtet werden? Dieser Vorschlag fügt sich ein in allgemeinere Überlegungen zu Multivokalität, Dialogizität und Selbstreflexion, die alle Geistes- und Kulturwissenschaften in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erfassten.14 Die dritte Wende betrifft die Lokalität der Ethnographie selbst und vor allem das Verhältnis zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘. In seinem Aufsatz „Feld ohne Ferne: Reflexionen über ethnologische Forschung zu Hause – in Hamburg zum Beispiel“, stellt der Münchner Ethnologe Martin Sökefeld fest: „Ethnologie [ist] nicht mehr die Wissenschaft vom ‚Fremden‘ oder ‚kulturell Anderen‘, sondern die Wissenschaft von wechselnden Positionierungen und Perspektiven.“15 Zunehmend werden die Kultur(en) vor Ort zum Untersuchungsgegenstand, was Sökefeld als das Feld ohne Ferne bezeichnet. Die Frage ist nun, ob und inwiefern eine theaterethnographische Forschung von diesen Ansätzen profitieren und sie anwenden kann? Das möchte ich an zwei Beispielen durchspielen, die jeweils andere Perspektiven beleuchten: an der Arbeit des sehr bekannten Kollektivs Rimini Protokoll und an einem weniger bekannten, internationalen Theaterprojekt, Hunger for Trade, das zwischen 2013 und 2014 am Schauspielhaus Hamburg und in mehreren Ländern realisiert wurde. Rimini Protokoll: Das Feld in der Ferne Die Arbeitsweise des ‚Performancelabels‘, so die Selbstbezeichnung von Rimini Protokoll, legt fast paradigmatisch eine ethnologische Wende der Theaterpraxis nahe: Rimini Protokolls Call Cuttakann bereits als kanonisches Beispiel für postdramatisches Theater bezeichnet werden, da es den Zuschauer zum Teilnehmer macht und auf professionelle Darsteller verzichtet. Der ursprüngliche Theater-Zuschauer wird Teilnehmer und selbst Akteur, der eigentlich Unbeteiligte selbst Teil der Performance.1 Das „interkontinentale Theaterstück“ Call Cuttawurde zwischen 2005 und 2012 in mehreren Iterationen aufgeführt. Die erste Variante fand in der titelgebenden Stadt Kalkutta statt; eine zweite wurde in Berlin und weitere, ‚kompaktere‘ Versionen – Call Cutta in a box– in diversen Städten realisiert.
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