Während die Vertreter*innen der Exploratory Practice den komplexen und spannungsgeladenen Beziehungen von Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen keine besondere Aufmerksamkeit widmen und folglich die Frage nach der Etablierung einer Gemeinschaft der Forschenden weitgehend ausblenden, nimmt die Schaffung eines geschützten Raums ( safe space ) in der Methodenkonzeption von Bergold / Thomas (2012) eine Schlüsselstellung ein. Gemeint ist ein von allen Beteiligten zu schaffender und im Prozess immer wieder neu zu gestaltender Raum, in dem sich die verschiedenen Aktant*innen ohne Ängste des Gesichtsverlustes auf Augenhöhe begegnen, in dem sie geschützt ihre Sicht der Dinge darstellen, ihre Erfahrungen kommentieren und ihr besonderes Wissen einbringen können. Es geht folglich um einen Raum, in dem alle Beteiligten von und miteinander lernen. Solche Räume sind vor allem dann gefragt, wenn sich Wissenschaftler*innen in Handlungsfelder begeben, in denen ihnen qua Status eine Außenseiterposition zukommt.
For applied linguists, however, especially for those who locate their work in the professional and workplace context, these relationships are challenging, and often confounded by their very outsider status in relation to the communities and the sites with whom and in which they seek to work (Sarangi / Candlin 2003: 274).
Erste und vordringliche Aufgabe für die Beteiligten des PROJEKTS war es, einen solchen Beziehungsraum zu schaffen, dessen Genese und Bestimmungsparameter im nächsten Abschnitt dargestellt werden.
2.2 Parameter für die Entwicklung einer Gemeinschaft der Forschenden ( community of inquiry )
Wie schon gesagt, übernahmen mit der Formalisierung des PROJEKTS die Wissenschaftler*innen die Verantwortung, dieses in Gang zu bringen. Dazu gehörten die Konstituierung eines Leitungsgremiums und die Erarbeitung eines Aktionsplans. Dem Leitungsteam gehörte von Anfang an eine Lehrkraft der PROJEKT-Schulen an, die für ihre Koordinations- und Leitungsarbeit mit einer halben Stelle vom Unterricht freigestellt wurde. Unter Berücksichtigung der besonderen Kontextbedingungen und der einschlägigen Forschungsliteratur zielte der Aktionsplan auf die Herstellung eines sicheren Begegnungsraums ( safe space ), wohl wissend, dass ein solcher Raum für gemeinsames Forschen und Lernen unter Berücksichtigung je individueller Interessen ein langfristiges und immer wieder gefährdetes Unternehmen sein würde. Für die Schaffung eines solchen Raumes musste folgenden Aspekten, die während des gesamten PROJEKTES immer wieder im Fokus waren, besondere Beachtung zukommen: (1) die zeitlichen Zwänge, denen alle Beteiligten ausgesetzt sind, (2) der Aufbau von Selbstvertrauen gegenüber der eigenen Praxis, (3) die Wertschätzung der alltäglichen pädagogischen Praxis und (4) der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen. Im Folgenden sollen diese Aspekte im Einzelnen erörtert werden. Aus der Retrospektive sind sie nach unserem Verständnis konstituierende Parameter kollaborativer Forschung.
Abb. 1:
Der Forschungsansatz
2.2.1 Zeitliche Zwänge. Lehrer*innen als Forscher*innen
Forschung muss immer mit zeitlichen Zwängen rechnen, bei der Arbeit mit Lehrer*innen wiegen sie jedoch besonders schwer. Denn es geht (1) um die tägliche Arbeitsbelastung der Lehrer*innen, (2) um das Interesse und die Verantwortung der Forscher*innen, reiche Daten zu gewinnen und zu erheben und (3) um die Frage, ob und wenn ja, in welchem Umfang Lehrer*innen über ihre pädagogischen Tätigkeiten hinaus durch das PROJEKTS belastet werden können. Allwright / Hanks (2009) fassen diesen Aspekt mit dem Konzept quality of life zusammen (S. 149-151; 280-282; s.o.). Besonders in der Anfangsphase des PROJEKTS artikulierten die Lehrer*innen ihre Frustrationen über die alltägliche Belastung und darüber, dass sie für die Mitarbeit am PROJEKT keine Entlastungsstunden erhielten, andererseits aber erwartet wurde, dass sie an den monatlichen Projektsitzungen teilnahmen. Die Projektleitung nahm dieses Anliegen ernst und versuchte zugleich die Wahrnehmung der Beteiligten für die Erträge des Dialogs miteinander zu stärken. Die Fokussierung auf die gemeinsamen Versuche, Aspekte frühen Englischunterrichts aus je individuellen Perspektiven zu verstehen und sich darüber auszutauschen, konnte als Gegengewicht gegen die verständliche Frustration wirken (vgl. Phillips et al. 2013: 1-20). Im Laufe der Zeit rückten die fachdidaktischen Aspekte und vor allem die Freude am Dialog über die tägliche Praxis deutlich stärker ins Bewusstsein der Lehrer*innen als die Auseinandersetzung mit den zeitlichen Zwängen.
Ein Faktor, der für die Beteiligten die Wahrnehmung der Zeitbelastung möglicherweise veränderte, war die Art und Weise, wie die Projektgruppe die Gewinnung und Erhebung von Daten anging. Im Gegensatz zu Forschungsansätzen, die Lehrer*innen als Forscher*innen mit der Verantwortung ausstatten, selbst Daten zu erheben, z.B. die Aktionsforschung (Burns 2010), wurden im PROJEKT andere Wege gegangen. Datenerhebung und Gewinnung lagen ausschließlich in den Händen der professionellen Forscher*innen, denn unter Regelbedingungen haben Lehrkräfte weder Zeit noch Energie, solche Kärrnerarbeit zu leisten (vgl. auch Müller-Hartmann / Schocker / Pant 2013: 21-25; Barkhuizen 2009). Dies enthebt die Forscher*innen jedoch keineswegs der Verpflichtung, ihre Methoden und Entscheidungen immer für die Gesamtgruppe transparent zu machen. Von den PROJEKT-Lehrkräften konnte nicht erwartet werden, dass sie Forschungstagebücher führten oder sich in Forschungsberichte vertieften, noch war es realistisch, sie für umfangreiche narrative Interviews zu gewinnen. Deshalb setzten die Forscher*innen darauf, mit den Lehrer*innen so oft wie möglich gut handhabbare und dokumentierbare Situationen zu schaffen, die zum einen dazu dienten, dass letztere ihre besondere „Stimme“ entdecken konnten und dass diese Stimmen in Form von knappen Datensätzen anderen zugänglich wurden. Audio und Videoaufnahmen aus dem Unterricht kamen ebenso zum Einsatz wie informelle Gespräche und kurze Interviews. Mit dem gewachsenen Vertrauen in der Gruppe (s. 2.2.4) bildeten diese Datensätze den Ausgangspunkt intensiven Austausches in den monatlichen Gruppensitzungen und vor allem bei der Jahrestagung.
Der achtsame Umgang mit Zeit spiegelte sich auch in der Organisation der monatlichen Treffen, die immer am ersten Donnerstag im Monat stattfanden und für das gesamte Schuljahr im Voraus angekündigt wurden, damit Lehrkräfte gemäß den Vereinbarungen mit dem Kultusministerium langfristig delegiert werden konnten. Die Treffen wurden jeweils von einer PROJEKT-Schule ausgerichtet und dauerten nicht länger als 2 Stunden. Das konsequente Einhalten der 2-Stunden-Regel erlaubte nicht nur eine verlässliche Zeitplanung für die Beteiligten, sondern erwies sich vor allem mit dem Fortschreiten des PROJEKTS als Bedingung für sehr gezieltes Arbeiten. Die Planung oblag dem Leitungsteam, das zu den Sitzungen mit Tageordnung einlud und das alle Sitzungen innerhalb einer Woche protokollierte. Konsequent wurde vom Leitungsteam auch die Regel „keine Hausaufgaben für die Treffen“ beachtet, was nicht ausschloss, dass Lehrer*innen Materialien aus dem Unterricht mitbrachten oder sich eigene Hausaufgaben stellten, indem sie Gespräche über Videomitschnitte ihres eigenen Unterrichts für die Gesamtgruppe vorbereiteten.
2.2.2 Der Aufbau von Selbstvertrauen in die eigene Professionalität
Das Bemühen um die Stärkung des Selbstvertrauens der Beteiligten in ihre eigene Professionalität war ein weiterer Beitrag für die Entwicklung eines sicheren und produktiven Begegnungsraums und damit für die Entfaltung des Forschungskonzepts. Ersteres manifestierte sich in drei miteinander zusammen-hängenden Aspekten: (1) Die Lehrer*innen mussten sich vergewissern können, dass ihre Ideen und ihr Erfahrungswissen das PROJEKT weiterbringen, dass sie Relevantes zu sagen haben, dass es auf ihre Beiträge ankam. (2) Lehrer*innen mussten unterstützt werden, sich eine fachdidaktische Fachsprache anzueignen und sich auf theoretische Konzepte einzulassen, ohne dass sie ihre unterrichtsbezogene Alltagsprache als minderwertig oder unzulänglich bewerteten. (3) Schließlich ging es darum eine gemeinsame Sprache für alle Beteiligten zu finden.
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