„Meinem Leser.
Ein gut Gebiss und einen guten Magen –
Diess wünsch’ ich dir!
Und hast du erst mein Buch vertragen,
Verträgst du dich gewiss mit mir!“
Friedrich Nietzsche
B. Hauptteil
0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur . Abzweigungen
0.1 Der Kern als beigefügtes Zentrum
Die vorliegende Studie wird sich dem mit Thomas l’Obscur betitelten Text von Maurice Blanchot widmen.1 Dem Text? Schon hier muss eine Präzisierung stattfinden, denn streng genommen wird es vor allem um Blanchots vierten Roman gehen, um die zweite Version von Thomas l’Obscur , die Blanchot 1950, neun Jahre nach der ersten, veröffentlicht hat. Zwischen der ersten Version des Romans aus dem Jahre 1941 und der zweiten, der „Nouvelle version“, erschienen die Romane Aminadab (1942) und Le Très-haut (1948). Was hat Blanchot dazu bewogen, seinen mit „Roman“ untertitelten Text von 1941 zu überarbeiten, massiv zu kürzen und unter fast demselben Titel neu herauszugeben? Eine mögliche Antwort darauf findet sich in einem Brief an seinen langjährigen Freund und Denkgefährten Georges Bataille aus dem Jahr 1948:
J’ai mis au point ces jours-ci une version autre de ‚Thomas l’obscur‘. Autre: en ce sens qu’elle réduit des deux tiers la première édition. C’est cependant un livre véritable et non des morceaux de livre; je puis même dire que ce projet n’est pas un projet de circonstance ou inspiré par des complaisances d’édition, mais j’y ai souvent pensé, ayant toujours eu le désir de voir à travers l’épaisseur des premiers livres, comme on voit dans une lorgnette l’image très petite et très lointaine du dehors, le livre très petit et très lointain qui m’en paraissait le noyau.2
Blanchot betont, dass der Grund für diese neue Version ein bereits länger bestehender Wunsch nach Distanzierung oder Verkürzung war, um aus der Tiefe oder auch Dichte seiner ersten Romane heraussehen oder durch sie hindurch sehen zu können. Das über lange Zeit nur angedachte kleine Buch ist der Kern seines Frühwerks, nur dass die Ursprungslogik von Kern und daraus entstehender Pflanze invertiert ist, da Blanchot den Kern im Umkehrprozess aus dem bereits Geschriebenen kreiert. Die ‚andere‘ Version von Thomas l’Obscur ist demnach sowohl im romanesken Frühwerk bereits enthalten als auch dessen Destillat. Sie stellt ein „wahrhaftes Buch“ dar und kein mangelhaftes Stückwerk des Originals. Das Faszinosum der beiden Versionen des Romans besteht in ihrer Gleich-Gültigkeit, die Blanchot in seinem Vorwort zur zweiten Version betont. Allerdings wurde lange Zeit vor allem letztere rezipiert, wenn von Thomas l’Obscur die Rede war. Erst 2005 wurde die Erstfassung von 1941, welche schnell nach dem Erscheinen der zweiten vergriffen war, neu verlegt.3 Die Vermutung liegt nahe, dass ihre Länge und Dunkelheit (diskursiv wie semantisch) gewichtige Gründe für die mäßige Rezeption waren.4 Mittlerweile steigt das Interesse für die ältere Version wieder. In der gegenwärtigen Rezeption zeigt sich ein zunehmendes Bewusstsein für den Sonderfall einer Koexistenz zweier Fassungen, sodass neuere Arbeiten zu Thomas l’Obscur in der Regel herausstellen, welche Version des Textes der Analyse zu Grunde liegt.
Durch die Präsenz der beiden Versionen – nicht zuletzt im Sinne eines Drehens oder Umstülpens – stellt sich die Frage nach dem Original neu. Handelt es sich doch bei der zweiten Fassung, die Blanchot „nouvelle version“ nennt, ausdrücklich um eine gleichberechtigte Fassung in Bezug auf die erste, nicht jedoch um eine Version, die leichtfertig die erste ersetzen solle. So schreibt Blanchot in der Gallimard-Ausgabe von 1950 vor dem Beginn des eigentlichen Romantextes:
Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles. Aux pages intitulées Thomas l’Obscur , écrites à partir de 1932, remises à l’éditeur en mai 1940, publiées en 1941, la présente version n’ajoute rien, mais comme elle leur ôte beaucoup, on peut la dire autre et même toute nouvelle, mais aussi toute pareille, si, entre la figure et ce qui en est ou s’en croit le centre, l’on a raison de ne pas distinguer, chaque fois que la figure complète n’exprime elle-même que la recherche d’un centre imaginaire. 5
Bemerkenswerterweise ist in der deutschen Übersetzung der neuen Version (die erste gibt es noch nicht in übersetzter Form) dieses Vor wort oder vielmehr dieser Vor satz nicht abgedruckt, wodurch wichtige Aspekte der Beziehung von erster und zweiter Fassung nicht berücksichtigt werden können.6 Denn die Position der ersten Fassung wird von Blanchot, wie über die beiden Zitate ersichtlich, nicht unter die der zweiten, der neuen gesetzt.
Die Tatsache, dass der Text in zwei Fassungen existiert, ist für Blanchots Schaffen an sich nichts Ungewöhnliches, sondern stellt eher ein erprobtes Verfahren dar: Blanchot hat viele seiner Texte mehrfach überarbeitet und nach einer Erstveröffentlichung zahlreiche Artikel in neuen Kontexten oder Textsammlungen in anderer Form publiziert – nicht zuletzt zeigt sich darin eine tiefe Skepsis Blanchots gegenüber Ursprungslogiken und eindeutigen Zuordnungen. Dass jedoch wie im Falle von Thomas l’Obscur beide Fassungen7 als gleich-gültig gelten und folglich unter demselben Titel koexistieren sollen, ist schon bemerkenswerter und schreibt ihnen auf diese Art eine Sonderrolle im Gesamtwerk zu.8
Blanchot verweist darauf, dass die zweite Version nichts hinzufüge, sondern der ersten sogar viel (weg)nehme. Die beiden Versionen sind gleich-gültig oder ebenbürtig, ohne gleich zu sein. Denn je nach Betrachtung oder Bedingung ist die neue Version gänzlich neu, anders als die frühe Version oder ihr sehr ähnlich.9 Die Ähnlichkeitsbeziehung konstituiert sich durch die Suche nach einem imaginären Zentrum, welches nach Blanchots Biographen Christophe Bident der Tod der Protagonistin Anne ist.10 Liest man nun den Abschnitt aus dem Brief an Georges Bataille und den Paratext zusammen, so ergibt sich die Möglichkeit, das doppeldeutige Bild des nachträglichen Kerns als anderen Ausdruck für die Suche nach einem azentrischen Zentrum zu begreifen. Diese Struktur eines Fluchtpunktes – oftmals artikuliert über vorangestellte Paratexte – kehrt an vielen Stellen in Blanchots Werk wieder, unter anderem in einer kleinen Notiz zu Beginn von L’espace littéraire , in der das Kapitel zu Orpheus, „Le regard d’Orphée“, als das bewegliche Zentrum benannt wird, zu dem alle Seiten des Buches hinlaufen:
Un livre, même fragmentaire, a un centre qui l’attire: centre non pas fixe, mais qui se déplace par la pression du livre et les circonstances de sa composition. Centre fixe aussi, qui se déplace, s’il est véritable, en restant le même et en devenir plus central, plus dérobé, plus incertain et plus impérieux. […] quand il s’agit d’un livre d’éclaircissements, il y a une sorte de loyauté méthodique à dire vers quel point il semble que le livre se dirige; ici vers les pages intitulées Le regard d’Orphée .11
In dieser Konzeption des Fluchtpunktes wird selbiger zu einem Kraftpunkt, der den Text zusammenhält und ihn sich übersteigen lässt. In L’espace littéraire , einer Sammlung früher literaturtheoretischer Texte Blanchots, auf die ich kontinuierlich Bezug nehmen werde, ist das Zentrum eines, das sich in Richtung der Seiten befindet, die mit „Le regard d’Orphée“ überschrieben sind. Das Zentrum ist folglich nicht leicht auffindbar, sondern eine Metapher für die zum Scheitern verurteilte Suche nach einem Zentrum. Wenn es in L’espace litteraire ein Zentrum gibt, dann das sich verschiebende Zentrum, in das man nicht gelangen kann. Der Tod Annes, der in der ersten Version bereits sehr wichtig ist, jedoch noch durch andere Handlungen und Figuren überlagert wird, rückt in der zweiten Version deutlich in den Vordergrund und wird, hier stimme ich Bident zu, dessen meditatives Zentrum – sofern man dies wiederum als ein soeben skizziertes Zentrum im Sinne Blanchots versteht. Analog dazu macht sich der récit als Textform mit der späteren Fassung zum nachträglichen Zentrum des Romans, als welcher die erste Fassung von Thomas l’Obscur untertitelt wird. Von diesem Zeitpunkt an wird Blanchot keine Romane mehr schreiben, sondern neben seiner journalistischen Tätigkeit zahlreiche récits verfassen, die sich in ihrer Fähigkeit, etwas zu erzählen, stetig selbst hinterfragen.
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