Ähnlich wie der Wiener Kongress hatten die Versailler Verträge mehrere konkrete Funktionen: Territoriale Neuordnung, Eindämmungund neue Weltfriedensordnung.
Allerdings war diese Aufgabe ungleich schwerer als zur Zeit des Wiener Kongresses. Denn obschon das Schicksal Deutschlands ein zentrales Thema der Friedenskonferenz war, spielten weitere Fragen eine ebenso große Rolle: Was sollte aus Russland werden? Und wie sollte man auf dem Balkan und in Osteuropa verfahren? Schließlich mussten auch noch die Verhältnisse im Nahen Osten befriedet werden und eine Regelung für das Osmanische Reich gefunden werden. Der Versailler VertragVersailler Vertrag (Deutschland), der Vertrag von St. Germain (Österreich-Habsburg), der Vertrag von Trianon (Ungarn) und derjenige von Sèvres (Osmanisches Reich) sahen dabei recht ähnliche Regelungen vor. In allen vier Fällen verloren die Kriegsverlierer Territorium, mussten Kriegsreparationen bezahlen, wurden außenpolitisch überwacht und entmilitarisiert. Dies folgte im Wesentlichen der Praxis, wie sie bereits nach dem Wiener Kongress erfolgreich eingeübt worden war.
Territoriale Neuordnung Europas und des Nahen und Mittleren Ostens:Die Versailler Verträge und der Vertrag von St. Germain (für Österreich-Ungarn) sahen bedeutende Gebietsabtretungen vor. Deutschland musste im Westen das Elsass und Lothringen, im Osten Posen und Westpreußen abtreten. Das Saarland wurde der Verwaltung des Völkerbunds unterstellt, das Ruhrgebiet einer gemeinsamen Verwaltung durch eine Reparationskommission. Das Deutsche Reich verlor alle seine kolonialen Besitzungen. Genauso bedeutend waren die Regelungen zur Rüstungsbeschränkung: Das Deutsche Reich musste 90 Prozent seiner Handelsflotte abtreten oder ausliefern und versenkte diese vorsorglich (vgl. Tabelle 1.5).
Territoriale Regelungen der Versailler Verträge zu Deutschland
Der gesamte Balkan wurde im Zuge der Versailler VerträgeVersailler Verträge ebenfalls neu territorial geordnet.
Österreich-Ungarn wurde aufgelöstAuflösung Österreich-Ungarns, ebenso wie ein Teil Russlands. In der Folge entstanden Ungarn, Jugoslawien und die Tschechoslowakeials unabhängige Staaten. Mit der Schaffung dieser drei territorialen Flächenstaaten sollte einerseits ein Puffer gegenüber Russland geschaffen werden, der Deutschland gegenüber dem Bolschewismus abschirmte. Territoriale Neuordnung OsteuropasAndererseits sollte diese Staatengruppe ein östliches Gegengewicht gegen eine künftige „deutsche Gefahr“ bilden (Berghahn 2009: 110).
Neben Deutschland waren vor allem Österreich-Ungarn und das Osmanische Reichdie Kriegsverlierer (Murray 2009). Österreich-Ungarn und damit das Habsburger Königreich hörten auf zu existieren – auch völkerrechtlich. Der Friede von St. Germain löste das Reich auf, auch Österreich wurde als Kriegsschuldiger bezeichnet. Aus ihm gingen mehrere Staaten hervor. Vom einstmals großen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn blieb Österreich mit etwas mehr als 6 Millionen Einwohnern übrig. Ähnlich erging es dem Osmanischen Reich, dessen Territorium stark verkleinert wurde. Das türkische Territorium wurde reduziert auf Anatolien und Istanbul, der Rest wurde unter den Alliierten aufgeteilt oder dem Völkerbund unterstellt. Die Regelung von Sèvres führte zum Bürgerkrieg im Osmanischen Reich, der erst 1923 beendet war und in das nachhaltigere Abkommen von Lausanne mündete.
Überwachung des Deutschen Reichs und Österreichs:Die Versailler VerträgeVersailler Verträge sahen die nahezu vollständige Demobilisierung und DemilitarisierungDeutschlands vor. Die Wehrpflicht wurde verboten. Der Vertrag verbot den Besitz einer Luftwaffe und begrenzte die Größe des deutschen Heeres und seiner Offiziere. Ruhrgebiet und Saarland wurden demilitarisiert. Österreichs Heer wurde ebenfalls begrenzt.
Völkerbund als Friedenssicherungssystem:Mit den Versailler VerträgeVersailler Verträgen wurde ein System der Friedenssicherung in Form des Völkerbunds als einem kollektiven Sicherheitkollektive Sicherheitssystem etabliert. Kern war die Beschränkung der traditionellen einzelstaatlichen Gewaltpolitik und Geheimdiplomatie, an deren Stelle die kollektive Gewaltanwendungaller Staaten treten sollte und die freie Diskussion der Staatsmänner vor der Weltöffentlichkeit.
Die Streitschlichtungwar ein zweiter zentraler Pfeiler des Völkerbunds. Die Mitglieder verpflichteten sich, ihre „einer schiedsrichterlichen Lösung zugänglichen“ Differenzen entweder vor den Völkerbundrat oder den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen. Die Regelungen zur Streitschlichtung blieben jedoch letztlich unverbindlichKeine rechtlich verbindliche Wirkung der Streitschlichtung.
Die Schwächen des Schiedsgerichtsverfahrens sollten durch Sanktionsbestimmungender Völkerbundsatzung ausgeglichen werden. Diese traten automatisch in Kraft, sobald ein Mitglied unter Nichtbeachtung der Schlichtungsbestimmungen einen Krieg begann. Als Sanktion gegen den Angreifer war der Wirtschaftsboykottvorgesehen. Die Anwendung militärischer Sanktionen war zwar vorgesehen, ihre Durchführung war aber den Mitgliedern überlassen. Die Wirksamkeit oder Effektivität des Völkerbunds war damit letzten Endes von der Bereitschaft seiner Mitglieder abhängig, seine Verfügungen, wenn nötig, mit Waffengewalt zu unterstützen.
Die Lösung für dieses Problem sollte ein internationaler Beistandspaktsein, über den die Völkerbundversammlung im Herbst 1923 beriet. Dieser sollte garantieren, dass Mitglieder im Falle eines Angriffskriegs einander helfen. „Die im Völkerbund zusammengeschlossenen Staaten sollten gegebenenfalls einen notorischen Friedensstörer oder Aggressor aus ihren Reihen ausgrenzen und gegen ihn eine ‚überwältigende Koalition‘ bilden, um ihn notfalls mit dem gemeinsamen Einsatz von Machtmitteln auf den Pfad des Friedens zurückzwingen zu können.“ (Knapp 2004: 88) Allerdings konnten sich die Staaten nicht auf eine Definition eines „Aggressors“ einigen und vielen ging die darin enthaltene Beistandsverpflichtung zu weit. Der Versuch, den Völkerbund durch ein internationales Militärbündnis zu ergänzen und zu stärken, war damit fehlgeschlagen.
Der Völkerbund war von seiner Anlage als ein globales Friedenssicherungssystemausgelegt, die Reichweite seiner Autorität blieb jedoch in zweifacher Hinsicht beschränktGlobales Friedenssicherungssystem mit beschränkter Reichweite. Durch die Nicht-Mitgliedschaft der USA fehlte ihm der Staat, dessen materielle Macht kriegsentscheidend für den Ersten WeltkriegErster Weltkrieg gewesen war. Der Völkerbund blieb aber auch beschränkt in seiner räumlichen Autorität: Die kolonialen Besitzungen waren von den Beratungen im Völkerbund explizit ausgeschlossen. Damit verbunden war, dass Kolonialismus als eine Praxis der Unterdrückung ganzer Völker auch nicht normativ geächtet war. Eine der wichtigsten Ideen Woodrow Wilsons in seinem 14-Punkte-Programm in Bezug auf die Gebiete unter kolonialer Herrschaft hatte sich nicht durchgesetzt.
Merke
Mangelnde Durchsetzungskraft des Völkerbunds
Der Völkerbund blieb in seiner wichtigsten Funktion, die internationale Sicherheit in einem System kollektiver Sicherheit zu garantieren, wirkungslosIneffektivität des Völkerbunds. Die Durchsetzung des allgemeinen Kriegsverbots war nicht nur davon abhängig, dass sich im Falle eines Konfliktes alle Staaten darauf einigten, wer der Urheber einer Aggression sei, sondern auch davon, dass alle bereit sind, mit allen Mitteln gegen einen identifizierten Aggressor vorzugehen. Die fehlende Durchsetzungsfähigkeit wurde erstmals 1931 beim japanischen Überfall auf die Mandschurei und vier Jahre später beim italienischen Angriff auf Abessinien deutlich. Im italienischen Fall befürchtete Großbritannien, in einen Krieg verwickelt zu werden und schloss sich einem Boykott gegen Italien nicht an. Wie stark der Völkerbund danach an Bedeutung verlor, spiegelt sich in seiner Mitgliedschaft wider. Zwischen 1931 und 1941 traten ein Drittel der Mitglieder bereits wieder aus, obwohl auch einige Staaten dem Völkerbund beitraten (vgl. Abb. 1.6). Die letzten beiden Mitglieder, die austraten, waren Frankreich (1941) und Haiti (1942).
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