Grundthema und Ausgangspunkt der gesamten Partie ist dabei mit Philoktet der Protagonist selbst: Sein elendes Leben auf der sonst menschenleeren Insel bildet in der bildhaften Ausgestaltung des zweiten Strophenpaars die Mitte des Abschnitts. Gerahmt wird diese dabei durch die Erkundung der konkreten Lebensumstände des Helden durch den Chor sowie die schrittweise Konfrontation mit dem realen Philoktet, der schließlich auf der Bühne erscheinen wird. Die Szenerie entfaltet in dieser Hinsicht gerade gegen Ende eine enorme Sogwirkung, die rückblickend geradezu das dramatische Crescendo der bisherigen Abfolge von Prolog und Auftrittsszene des Chors darstellt. War Philoktet bereits seit den ersten Worten des Odysseus (v. 4ff.) Gegenstand und Bezugspunkt von Handlung und Reflexion, so sind mit der lyrischen Partie der Protagonist selbst, das Verhältnis der Akteure einschließlich des Chors untereinander und die gesamte dramatische Umwelt in höchstem Maß ausgeleuchtet.
Schon angesprochen wurde der durchgehende Handlungsfluss im Übergang vom Prolog zur Auftrittsszene des Chors. Indem der Chor keine leere Bühne betritt, sondern sich zu Neoptolemos als einem der Prologsprecher gesellt und mit ihm in ein Gespräch eintritt, ist die gesamte folgende Szenerie als direkter Anschluss an die vorangegangene Unterredung etabliert: Kein Neubeginn, sondern dramatische Kontinuität prägt das Bühnengeschehen.20 Dementsprechend sind bestimmende Motive und Strukturmomente des Prologs auch für die lyrische Passage von Bedeutung: Zunächst ist letztere wesentlich dialogisch, d.h. Austausch zwischen Mannschaft und Kapitän. Statt dem Zwiegespräch Odysseus-Neoptolemos also eine rein reflektierende, monologische Partie folgen zu lassen, belebt Sophokles die bereits etablierte und mit dem Abtritt des Odysseus zu einem ersten Ende gekommene Dynamik des Dialogs neu.
Die Erkundung des dramatischen Raums, d.h. der Bühne, sowie die Beschreibung der Höhle und der Lebensbedingungen Philoktets bilden zudem eine weitere Brücke zwischen Prolog und Parodos. Indem auch der Chor über einige wesentlichen Momente der Handlung informiert wird und sich selbst ein Bild von der Lage macht, wiederholt sich die strukturelle Ausgangssituation des Prologs. Wenn dabei die beiden dialogisch strukturierten Strophenpaare eine reflektierende und imaginierende Kurzode umrahmen, ist das Prologgespräch in einer anderen Personenkonstellation, also unter veränderten Vorzeichen, gespiegelt und – unter Einschaltung und Nutzbarmachung eines anderen Formelements – geradezu fortgeführt.
Damit allerdings nicht genug. In entscheidender Hinsicht kontrastiert die Auftrittsszene des Chors mit dem Prolog und setzt sich in wesentlichen Elementen von ihm ab: Zum einen lenkt die lyrische Passage den Blick ganz und gar auf den Protagonisten und blendet dabei die moralische Diskussion sowie das Unbehagen des Neoptolemos angesichts der geplanten Intrige aus. Indem er seiner Mannschaft als „souveräner Führer in der Kopie des Od[ysseus]“21 gegenübertritt und zudem das ausgemalte Leid einzuordnen und zu deuten versteht (v. 191ff.), ist die Problematik seines Vorhabens und der in Rede stehenden Täuschung ganz aus dem Blick geraten. Statt einer Problematisierung des weiteren Vorgehens, wie es die einleitende Frage des Chors (v. 135f.) vermuten ließ, entfaltet sich eine farbenreiche Imagination des Protagonisten, wobei zudem das Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren (Neoptolemos, Chor, Philoktet) ausgeleuchtet wird.
Damit Hand in Hand geht die zweite Verschiebung gegenüber dem Prolog: Während sich Odysseus und Neoptolemos in ihrer Unterredung vom Schicksal des Philoktet mehr oder minder unbeeindruckt zeigten, nimmt der emotional-mitleidende Blick in der lyrischen Passage eine zentrale Rolle ein. Hatte also der Prolog im Wesentlichen den intendierten Fortgang der Handlung im Blick, reflektiert die Auftrittsszenerie des Chors ein bedeutendes Moment der Handlung in emotional-bildhafter Ausgestaltung.
Die Auftrittsszene des Chors ist so von einer besonderen Spannung geprägt: Als Fortführung struktureller Momente des Prologs unter Verschiebung entscheidender Vorzeichen reiht sie sich in die dramatische Kontinuität, vervollständigt dabei allerdings durch eine Perspektiv- und Akzentverschiebung das Bild vom Protagonisten und der gesamten dramatischen Ausgangssituation.22 Die weitgreifende Imagination des Protagonisten innerhalb seiner Umwelt bildet dabei den Auftakt zum Auftritt Philoktets und dem damit verbundenen Fortschreiten der Handlung. Zudem ist, wie sich später zeigen wird, mit der breit entfalteten Mitleidsthematik ein Grundmotiv der chorischen Reflexion an unserer Stelle prominent etabliert.23
Die ausführliche Passage nimmt damit eine besondere Gelenkfunktion zwischen dem Prolog und dem ersten Epeisodion ein. Gerade mit Blick auf die sich anschließende Szene lässt sich weiterhin feststellen, dass die Imagination der widrigen Lebensumstände des Haupthelden in dessen ausgreifendem Monolog (v. 254–316) in gewisser Weise beantwortet und gespiegelt wird.24 Insofern vollzieht sich die Exposition des Heros, seiner Geschichte und seiner Situation in einem Dreischritt: Der Prolog hatte kurz sowohl den eigentlichen Akt der Aussetzung durch Odysseus thematisiert sowie einen ersten Blick auf die Figur Philoktets geworfen. Die lyrische Passage, v.a. die Kurzode v. 169–190, war demgegenüber trotz ihres Mangels an konkreter Erfahrung von bildhafter Drastik und detaillierter Ausgestaltung geprägt, während Philoktets eigene Worte erneut eine umfassende, d.h. seine Aussetzung, die Beschreibung der Insel sowie der momentanen Situation bietende Ausleuchtung aus der Perspektive des Betroffenen darstellen werden.25 Die lyrische Passage ist so motivisch und thematisch geklammert.26
So vielgestaltig die Passage in formeller Hinsicht ist, so polyvalent erscheint sie mit Blick auf die dramaturgischen Implikationen. Zusammengefasst soll festgehalten werden: Sophokles versteht es, der Auftrittsszene des Chors als einer traditionell an Handlungsfortschritt armen Stelle innerhalb des dramatischen Ablaufs dennoch besondere dramatische Brisanz und Dynamik zu verleihen.27 Die Rahmung der rein reflektierenden Partie (v. 169–190) durch die dialogisch gestalteten Strophenpaare verankert dabei die Imagination fest im Ablauf des Gesprächs und der Handlungsentwicklung. Mit der oben erläuterten motivisch-thematischen Klammerstellung ist gerade der reflektierend-imaginative Teil auf dramatische Fernwirkung konzipiert und reiht sich als zweites, ausführliches und wesentlich emotionales Moment in die ausgreifende Schilderung des Protagonisten.
Mit der Gestaltung der Partie als einer umfangreichen Komposition von drei formal unterschiedenen Abschnitten setzt Sophokles des Weiteren gleich zu Beginn des Stücks einen wesentlichen Akzent, der den Auftritt des Protagonisten umso wirkungsvoller in Szene setzt. Dass mit der Gesprächssituation Neoptolemos-Chor zudem eine typische und die weiteren chorischen Partien entscheidend prägende Konstellation etabliert ist, wird sich im Fortgang des Stückes zeigen.
Erstes Epeisodion (v. 219–675)1
Unter zwei Gesichtspunkten ist das folgende Epeisodion für unsere Untersuchung von Bedeutung: Zum einen überrascht seine ausgreifende Länge: Erst nach Vers 676 – also nach mehr als 450 Versen – werden mit Philoktet und Neoptolemos die zentralen Akteure die Bühne verlassen und der Chor sein (erstes) Stasimon beginnen.2 Das umfangreiche Epeisodion umfasst dabei das erste Gespräch zwischen Neoptolemos und dem aufgetretenen Philoktet, das Erscheinen und den Abtritt des von Odysseus bereits im Prolog angekündigten (vorgeblichen) Kaufmanns (v. 126 bzw. 627) sowie eine erneute Unterredung der beiden verbliebenen Personen. Sophokles lässt dabei Auf- und Abtritt des dritten Schauspielers zu einem wesentlichen Strukturmoment des Epeisodions werden, das die Handlung bedeutend voranbringt: Die durch den Kaufmann intendierte Eile (vgl. v. 620) prägt das weitere Geschehen und bietet zur vorangegangenen Unterredung zwischen Neoptolemos und Philoktet in ihrer ausgreifenden Weitschweifigkeit einen wirkungsvollen und dynamischen Gegenpol.
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