Das geschieht insbesondere in Kapitel 3: Dionysios kommt es an dieser Stelle darauf an, dass er keine Lobschrift (ἔπαινος) über den Redner hatte schreiben wollen, sondern dass es ihm um eine differenzierende Analyse – das Stichwort lautet διαγνῶναι – von Vorzügen und Schwächen des Demosthenes ging:
Ἐγὼ οὖν νομίζω δεῖν, ὅταν μὲν ἔπαινον προέληται γράφειν τις πράγματος εἴτε σώματος ὁποίου γέ τινος, τὰς ἀρετὰς αὐτοῦ καὶ οὐ τἀτυχήματα, εἴ τινα πρόσεστι, [τῷ πράγματι ἢ τῷ σώματι δεῖν] προφέρειν· ὅταν δὲ βουληθῇ διαγνῶναι, τί τὸ κράτιστον ἐν ὅτῳ δή ποτε βίῳ καὶ τί τὸ βέλτιστον τῶν ὑπὸ ταὐτὸ γένος ἔργων, τὴν ἀκριβεστάτην ἐξέτασιν προσφέρειν καὶ μηδὲν παραλείπειν τῶν προσόντων αὐτοῖς εἴτε κακῶν εἴτε ἀγαθῶν· ἡ γὰρ ἀλήθεια οὕτως εὑρίσκεται μάλιστα, ἧς οὐδὲν χρῆμα τιμιώτερον. (Dion. Hal. Pomp. 1, 3 = VI 222, 1–10 Usener-Radermacher)
(„Ich halte es also für notwendig, wenn man eine Lobrede auf eine Handlung oder eine Person – wie immer sie auch beschaffen sein mag – zu schreiben unternimmt, dass man die Vorzüge und nicht das Misslungene, wenn es denn welches gibt, vorbringt. Wenn man aber unterscheidend erkennen möchte, was das Vortrefflichste in irgendeinem Leben und was die beste unter Taten gleicher Art ist, die genaueste Untersuchung anstellen und darf nichts übergehen von dem Schlechten und dem Guten, was sich mit ihnen verknüpft. Auf diese Weise aber gelangt man am ehesten zur Wahrheit, die doch den höchsten Wert besitzt.“)
Als Maßstab einer derartigen „unterscheidenden Erkenntnis“ beruft sich Dionysios also auf das Kriterium der Wahrheit (ἀλήθεια), womit er offenkundig eine nicht tendenziöse, rein sachbezogene inhaltliche und stilistische Analyse meint. Dieses Kriterium hat für den ἔπαινος weniger Relevanz als für die διάγνωσις und wird hier geradezu als das differenzierende Merkmal zwischen Lob und Analyse eingeführt.
Die Unterscheidung dieser beiden Gattungen und die besondere Wahl, die Dionysios trifft, wird in den Kapiteln 4–8 näher ausgeführt. Zentral ist das Argument in Kapitel 5: Zur Erkenntnis der Stileigentümlichkeiten einzelner Reden bzw. einzelner Redner sei es hilfreich, zunächst eine Auswahl der Besten – an anderer Stelle ist allgemeiner von „Gleichartigen bzw. -rangigen“ die Rede – zu treffen und diese dann miteinander zu vergleichen. Damit lasse sich schließlich zwar ebenfalls eine Entscheidung darüber treffen, wer von dieser Bestenauswahl wiederum den ersten Platz erhält, die Qualität der unterlegenen Autoren werde damit aber nicht in Frage gestellt.
εἰ δὲ χαρακτῆρας λόγου προελόμενος σκοπεῖν καὶ τοὺς πρωτεύοντας ἐν αὐτοῖς φιλοσόφους τε καὶ ῥήτορας ἐξετάζειν τρεῖς μὲν ἐξ ἁπάντων ἐξελεξάμην τοὺς δοκοῦντας εἶναι λαμπροτάτους, Ἰσοκράτην τε καὶ Πλάτωνα καὶ Δημοσθένη, ἐκ δὲ τούτων αὐτῶν πάλιν προέκρινα Δημοσθένη, οὐδὲν ᾤμην οὔτε Πλάτωνα οὔτε Ἰσοκράτην ἀδικεῖν. (Dion. Hal. Pomp. 1, 5 = VI 222, 17–223, 2 Usener-Radermacher)
(„Wenn ich aber in dem Entschluss, die Stilarten der Rede genau zu betrachten und die in diesen jeweils ranghöchsten Philosophen und Redner herauszustellen, aus der Gesamtheit drei ausgewählt habe, die mir die glänzendsten zu sein scheinen, Isokrates, Platon und Demosthenes, aus diesen aber wiederum Demosthenes den Vorzug gegeben habe, so glaubte ich weder Platon noch Isokrates Unrecht zu tun.“)
Wieder versteht der fiktive Interlokutor Gnaeus Pompeius den Gedanken des Dionysios falsch, wenn er einwendet, ein Lob des Demosthenes hätte auch ohne eine vermeintliche Herabsetzung Platons auskommen können. Dionysios antwortet mit dem Hinweis, dass er von allen drei Autoren die besten Reden für seinen Vergleich ausgewählt und dabei festgestellt habe, dass alle Reden in ihren Teilen unterschiedliche Qualitätsstufen erreichten und erst eine Gesamtschau der differenzierten Urteile ein vor dem Maßstab der „Wahrheit“ belastbares Pauschalurteil zulässt:
Νὴ Δία, φῄς, ἀλλ’ οὐκ ἔδει σε τὰ Πλάτωνος ἁμαρτήματα ἐξελέγχειν, βουλόμενον ἐπαινεῖν Δημοσθένη. ἔπειτα πῶς ἄν μοι τὴν ἀκριβεστάτην βάσανον ὁ λόγος ἔλαβεν, εἰ μὴ τοὺς ἀρίστους λόγους τῶν Ἰσοκράτους τε καὶ Πλάτωνος τοῖς κρατίστοις <���τῶν> Δημοσθένους ἀντιπαρέθηκα καὶ καθ’ ὃ μέρος ἥττους οἱ τούτων λόγοι εἰσὶ τῶν ἐκείνου, μετὰ πάσης ἀληθείας ἐπέδειξα, οὐχ ἅπαντα τοῖς ἀνδράσιν ἐκείνοις ἡμαρτῆσθαι λέγων – μανίας γὰρ τοῦτό γε –, ἀλλ’ οὐδ’ ἅπαντα ἐπίσης κατωρθῶσθαι. (Dion. Hal. Pomp. 1, 6 = 223, 3–12 Usener-Radermacher)
(„‘Beim Zeus’, sagst du, ‘doch hättest du nicht die Fehler Platons aufzählen müssen, wenn es deine Absicht war, Demosthenes zu preisen.’ Wie hätte sich dann aber meine Rede der schärfsten Prüfung unterziehen können, wenn ich nicht die besten Reden des Isokrates und Platons mit den hervorragendsten von Demosthenes verglichen und nicht völlig der Wahrheit gemäß gezeigt hätte, in welchem Bereich ihre Reden schwächer als seine sind, ohne dabei zu behaupten, dass sich jene Männer in jeder Hinsicht verfehlt hätten – das wäre nämlich reiner Wahnsinn –, sondern nur, dass nicht alles in gleicher Weise ausgearbeitet sei.“)
Es ergibt sich also eine Akzentverschiebung: Während sich Gnaeus Pompeius ganz auf das Ergebnis der Synkrisis konzentriert, rückt dieser Aspekt für Dionysios in den Hintergrund. Diesem ist der Prozess des Vergleichens wichtiger. Zwar positioniert auch Dionysios seine drei Autoren auf einer imaginären Bestenliste, doch bringt es die Entscheidung für die „Wahrheit“ als leitendem Kriterium mit sich, dass die Bewertung der einzelnen Autoren differenzierter ausfällt, was grundsätzlich auch für den Erstplatzierten Demosthenes gelten muss – nur dass dieser eben verhältnismäßig wenig oder gar keinen Anlass zur Kritik gibt.
Dionysios enttäuscht damit in mehrfacher Hinsicht die Erwartungen seines Lesers Gnaeus Pompeius: Die Bewertung Platons im Demosthenes widerspricht grundsätzlich der Einschätzung des Pompeius. Zugleich ist dieser aber irritiert, dass Dionysios nicht nur die negativen, sondern auch die positiven Seiten des Unterlegenen herausarbeitet und damit weder einen kunstgerechten Angriff4 noch einen ἔπαινος auf Platon vorbringt. Der vermeintliche ἔπαινος auf Demosthenes entspricht in den Augen dieses Lesers aber ebenfalls nicht den Regeln der Kunst, da Platon und Isokrates nicht wie zu erwarten pauschal abgewertet, sondern durchaus gerecht und differenziert behandelt werden.5 Der Grund für diese Verwirrungen ist klar: Gnaeus Pompeius geht nicht von der bei Dionysios getroffenen Unterscheidung zwischen ἔπαινος und διάγνωσις aus; er legt an alle Abschnitte der Schrift die Maßstäbe des ἔπαινος an.
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