Die Forschung des 20. Jahrhunderts führt die Diskussionen um Ambrosius’ Selbstständigkeit und Ciceros philosophische Leistung fort. Jedoch interessieren sich nun, neben der theologischen, zunehmend auch die altphilologische und linguistische Disziplin für die Offizien von Cicero und Ambrosius. M.B. Emeneaus aufgrund seiner Kürze stark verdichteter Aufsatz12 behält den Ton der Kritik bezüglich Ambrosius’ Werk und Stil bei. Stilistisch schöne Wendungen suche man vergebens: „beauties of style, ornate rhetoric, figures of language have little place in Christian writings.“13 Jedoch ersetze die „inward form which was imposed upon language by the moral and spiritual enthusiasm of Christianity“ die äußere Form des Stils und der Rhetorik der klassischen Literatur.14 Nicht nur der rhetorische Wert der beiden Schriften, sondern auch das decorum wird erstmals unter philologischen und literarischen Aspekten genannt. Auch Ambrosius’ Auseinandersetzung mit Ciceros decorum -Begriff wird kurz gestreift. Dennoch ist Emeneaus Verdikt eindeutig: „Ambrose’s ethical work is in no way original. It suffers from too close adherence to its model.“15
Lotte Labowskys Dissertation16 über die Ethik des Panaitios aus dem Jahre 1934 zeigt zum ersten Mal, dass dem decorum -Begriff nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine ethische Komponente inhärent ist. Labowsky unterzieht die Paragraphen 93 bis 149 des ersten Buches von Ciceros Offizien-Bücher einer genauen linguistisch-philologischen Untersuchung. Mit Bezug auf andere De officiis Übersetzungen von beispielsweise C. Atzert (1923) deckt sie Kürzungen und logische Brüche in Ciceros Argumentation, Unvollständigkeiten linguistischer Art und Übersetzungsfehler auf. Am Ende dieser Untersuchung entwickelt Labowsky ein Schema der ciceronischen Komposition des decorum, das drei Aspekte hervorhebt: die begriffliche Grundlegung des decorum , die aus dem decorum entspringenden Pflichten und die Rücksicht auf das Urteil der Mitmenschen17. Im Vergleich mit Horaz’ decorum -Begriff wird außer dem ethischen auch der poetische Aspekt des decorum als Ordnungsprinzip analysiert. Die Tatsache, dass Lotte Labowsky den Schwerpunkt ihrer Untersuchung auf das decorum legt und ihre stringente Genauigkeit der Vorgehensweise machen dieses Werk auch 85 Jahre nach seiner Veröffentlichung zum Standardwerk für jede Untersuchung des decorum bei Cicero.
Rund 30 Jahre später veröffentlicht Otto Hiltbrunner seinen Aufsatz ‚Die Schrift de officiis ministrorum des hl. Ambrosius und ihr ciceronisches Vorbild‘, der das Ziel hat, den Zweck und die Absicht der ambrosischen Umwandlung der ciceronischen Schrift zu untersuchen. Zwar fokussiert auch Hiltbrunner auf die ambrosianische Umwandlung des Vorbilds Ciceros, wie es bislang Tradition in der Forschung war, doch beleuchtet er in altphilologischer Manier besonders die ambrosische Begriffsprägung von cardo/cardinales für die Kardinalstugenden, sowie die christliche Etymologie des Wortes officium und kommt auch kurz auf die Übernahme des ciceronischen Begriffes decorum zu sprechen, wobei er Ambrosius kritisiert, weil er „[d]en Sinn des stoischen πρέπον [...] mit seinem buchstäblich an den Haaren herbeigezogenen Beispiel völlig verfehlt“18 habe. Doch andererseits hieße es, Ambrosius bei aller respektvollen Treue dem Vorbild gegenüber zu verkennen, „wenn man ihm vorwirft, er habe keine selbstständige christliche Ethik verfaßt.“19
Doch erst Martin Thurmair widmet 1973 wieder einen Aufsatz ganz dem Thema des ciceronischen decorum -Begriffes. Darin hält er die bisherigen diachronistischen Untersuchungen zu Cicero und dessen Rekonstruktion der Panaitios-Vorlage für „metaphysische Mißverständnisse“ und Fehlinterpretationen aufgrund einer falschen Einordnung Ciceros in die Metaphysik.20 Dadurch werde Ciceros Theorie und sein decorum -Begriff nicht im ciceronischen, d.h. funktional im politisch-rhetorischen Kontext begriffen, sondern lediglich im philosophisch-historischen Rahmen. Im Gegensatz dazu unterscheidet sich Thurmairs Arbeit in Methode und Ergebnis, wenn er den decorum -Begriff Ciceros untersucht. Anhand von Begriffspaaren wie ratio – oratio , decorum – verum/verisimile , decorum – honestum wird versucht, das Konzept des decorum aus dem Gebiet der anthropologisch-politischen Theorie heraus zu bestimmen. So wird decorum als Letztimplikation des Handelns in der societas und als Bedingung für die Verwirklichung des Menschen begriffen.21 Thurmair definiert decorum damit als eine „Fähigkeit, die mannigfaltigen Merkmale einer Situation aufzunehmen und sie adäquat zu verarbeiten.“22 Da situatives Handeln immer in einem sozialen System seinen Platz hat, beschreibt das decorum auch „die Relation einer Verhaltensweise zum Gesamt anderer Verhaltensweisen“23. Dies bedeutet, dass durch die Zustimmung und Akzeptanz der Mitmenschen eine Handlung als schicklich beurteilt werden kann und keine feste Größe ist. Als sozialer Faktor ist das decorum jedoch nach Thurmair „nicht inhaltlich als ethische Leitlinie fest[zu]legen, sondern besteht wesentlich in der Art, wie Variablen einer Situation zueinander in Beziehung gesetzt werden.“24 Durch die gebotene Kürze ist es Thurmair leider nicht möglich, weiter in die Tiefe zu gehen, doch stellt seine Arbeit einen wichtigen Impuls dar, sich den anthropologischen, politischen und rhetorischen Implikationen des ciceronischen decorum -Begriffes zu widmen.
Willibald Heilmanns literatursoziologische Untersuchung (1982) von Ciceros Schrift De officiis verlässt den Bereich des decorum und analysiert, inwiefern literarische Tradition (Panaitios Vorlage etc.) von einer bestimmten Gesellschaftsschicht rezipiert wird. Seine Methode orientiert sich am Vorgehen des Literatursoziologen Lucien Goldmann. So interpretiert Heilmann beispielhafte Textstellen aus De officiis unter Heranziehung weiterer Textstellen aus den Tusculanae disputationes und aus De legibus . Auch Ciceros politisches Urteil und Verhalten nach dem Mord an Caesar wird in Beziehung gesetzt zu der in De officiis vertretenen Position und mit derjenigen der Caesarmörder kontrastiert. Als Ergebnis dieser literatursoziologischen Untersuchung lassen sich „strukturelle Übereinstimmungen zwischen Werk und gesellschaftlichem Bewußtsein als eine wesentliche Komponente von De off. [anzusehen] und damit gesellschaftliches Bewußtsein als eine entscheidende Bedingung dieser Schrift [zu] erkennen.“25
26 Jahre später widmet sich der Politikwissenschaftler Daniel Kapust in seinem Vortrag ‚Cicero on decorum and the morality of rhetoric‘ auf der Konferenz der Midwest Political Science Association im April 2008 der rhetorischen und moralischen Theorie Ciceros in De officiis . Darin stellt er die These auf, das decorum sei ein Verbindungsglied zwischen dem Wissen von Experten und den gängigen Meinungen und Werten. Ähnlich wie auch Thurmair sei keine Regel für das decorum festzulegen, da es als Urteilsvermögen kontext- und persönlichkeitsabhängig sei. Kapust unterscheidet zwischen einem rhetorischen und einem ethischen decorum. Das rhetorische decorum wird auf Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einer Rede reduziert, während das ethische decorum als eine Art Konstante bezüglich des Geistes und der Handlungen gesehen wird.26 Die Art und Weise, wie die Gesellschaft das Handeln eines Individuums bewerte, spiele eine wichtige, da einschränkende Rolle in Ciceros Begriff des decorum . Leider gelingt es Kapust nicht, Innovatives zum ciceronischen decorum -Konzept beizutragen, vielmehr ist sein Aufsatz eine Art Zusammenstellung verschiedener Standpunkte von Aristoteles über Cicero27 bis zur modernen Forschung.
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