Nach Cicero und Horaz ist Quintilian zu nennen, der zwar in weiten Teilen Ciceros Auffassung von decorum teilt, jedoch auch einen weiteren bedeutenden Aspekt für das Verständnis des römischen decorum bereithält: decorum als sinnlich erfahrbares Wissen.
In der Taxonomie Quintilians ist der Begriff des decorum eng mit decor , ornatus , pulchrum und aptum verbunden. Es bezeichnet eine ästhetische Tugend, die ethisch wirkt. So definiert Quintilian das „ apte dicere “ als die vierte Tugend der elocutio , die sich stark am Rezipienten – respektive den Richtern – zu orientieren hat. Sein decorum -Konzept ist rhetorisch und ethisch fundiert, „quid conciliando, docendo, movendo iudici conveniat“8. Diese Mehrdimensionalität des decorum wirkt bereits in der inventio (XI, 1, 7) und setzt den Nutzen mit dem decorum in Verbindung, wobei das decorum den Vorsitz übernimmt und analog zu Cicero dem honestum unterliegt (XI, 1, 9). Die ubiquitäre Bedingtheit des decorum zeigt sich wie bei Cicero an den beteiligten Personen, an der Zeit, dem Ort, dem Anlass ( causa ), allerdings auch an der Gesinnung des Redners ( animus ).9 Diese erkennt man nach Quintilian in der Rede, die das unsichtbar verborgene Innere ( animi secreta ) und die ethische Gesittung ( mores ) des Redners offenbar werden lässt. Rhetorisch gesehen resultiert das Angemessene gerade aus dem harmonischen Zusammenspiel von rhetorischer Technik und ethischem Auftreten des Redners in der römischen Gesellschaft. Der im Original griechische Sinnspruch „ut vivat, quemque etiam dicere“ in Buch XI, 1, 30 wird bei Quintilian zum Leitmotiv seines decorum- Begriffes. Der römische orator perfectus wird die Ziele in seiner Rede zu erreichen versuchen, die im Einklang mit dem honestum stehen. Apte vivere und apte dicere sind zwei Seiten der sozialen Medaille des römischen Redners. Deshalb stellt Quintilian außer Fallbeispielen und einzelnen Hinweisen keine rhetorischen Regeln für das decorum auf, sondern führt in XI, 1, 42 angenehme und somit angemessene Eigenschaften eines guten Redners – im rhetorischen, wie auch im moralischen Sinn – an: humanitas , facilitas , moderatio und benevolentia .
Neben decorum verwendet Quintilian auch noch weitere Synonyme für Angemessenheit, die jeweils ihre eigenen Konnotationen einbringen. So verwendet er „ convenit “ („es gebührt/schickt sich“) neben der Bedeutung eines geziemenden Redestils (XI, 1, 93) auch, um sittliches Verhalten am Beispiel von Sokrates (XI, 1, 11) oder anhand der Schilderung eines tränenumflorten Zeugen vor Gericht (als Konjunktiv Präsens aktiv „ conveniat “ in XI, 1, 84) zu bezeichnen, welches angemessen auf den Redner abgestimmt ist beziehungsweise sein muss und so dessen Rede verstärkt und glaubwürdig macht. Mit „ accommodamus “ („wir passen an“), das derselben Wortfamilie entstammt wie „ accommodatus “ (Partizip Perfekt zu oben genannten Verb für „schicklich/angepasst“) bezeichnet Quintilian in XI, 1, 39 die sprachliche Abstimmung des Redners auf die Wesensart ( mores ) seines von ihm vertretenen Klienten.
Wie für Cicero ist Quintilians Definition des decorum zu verstehen als ein Wissen um das rechte Maß, das nach seiner Auffassung aber nicht mit dem Verstand, sondern nur durch die Sinne erfahr- und erfassbar ist. Diese Betonung der Sinneswahrnehmung (αἴσθησις) ist genuin „quintilianisch“.
Die etymologische Untersuchung von Termini innerhalb des Angemessenheitskonzeptes bei Griechen und Römern hatte zum Ziel, die unterschiedlichen kulturellen und begrifflichen Prägungen des decorum aufzuzeigen. Während sich die Ethik bei den Griechen mit Platon und Aristoteles in der Ästhetik des Schönen verortet, ist sie bei den Römern eine Ethik innerhalb der societas , die durch den gesellschaftlichen Rang und das Verhalten einer Person, d.h. durch das Ethos, welches sich aus der auctoritas und der dignitas speist, maßgeblich konstituiert wird.
3 Das römische Decorum in Ciceros De Officiis
3.0 Forschungsüberblick
Die bisherige wissenschaftliche Forschung bezüglich der gleichnamigen Offizien-Bücher von Cicero und Ambrosius ist seit über einem Jahrhundert bestimmt vom Primat der vergleichenden Betrachtung. Den Auftakt bilden die Studie Bittners (1849) und vor allem die beiden Preisschriften der Theologischen Fakultät der Universität München von Hasler und Leitmeir aus dem Jahr 1864. F. Hasler und D. Leitmeir untersuchen sowohl die perhorreszierte, heidnische Ethik Ciceros, als auch die christliche Ethik Ambrosius’. Wie schon der Titel Leitmeiers angibt, sind diese Studien nach Hiltbrunner lediglich „apologetische Theologie“ ohne philologisch fundierte Untersuchung der Texte.1 Hasler sieht bei Ambrosius im Vergleich zu Cicero einen anderen geistigen Ansatzpunkt und räumt auf Grund dessen Ambrosius als Kirchenvater und Vertreter der christlichen Moral eine Vorzugsstellung ein, wohingegen Cicero abgesprochen wird, die menschliche Seele überhaupt zu kennen und Gott als Schöpfer zu erkennen.2 „Autoritative Erhabenheit“ wird lediglich dem Werk Ambrosius’ zugesprochen, denn „[n]ur die christliche Sittenlehre erfasst den ganzen Menschen“.3 Resümierend beurteilt Hasler den größten Vorzug von Ambrosius’ Schrift in der „Motivirung des Tugendstrebens durch den christlichen Glauben“ und kommt zu dem Ergebnis, dass Ciceros Werk zwar „eine Fülle von Wissen“ enthalte, aber „arm an Gedanken“ sei.4
Ähnlich klingt auch Leitmeirs Verdikt über Ciceros Leistung, wenn er ihm jegliche Selbstständigkeit auf dem Gebiet der Philosophie abspricht: „[Er mußte] sich vielmehr in allen spekulativen Erörterungen an griechische Muster anlehnen“.5 Trotz der Tatsache, dass sich Ambrosius zweifelsohne an Ciceros Schriftmuster anlehnte, wird jenem jedoch das Verdienst zugesprochen, „als der Erste die christliche Ethik in ihren Vorzügen und Gegensätzen gegenüber der sittlichen Anschauung des Heidenthums in helleres Licht gebracht und eine systematische Darstellung der christlichen Sittenlehre wenigstens versucht zu haben.“6 Auf diesem Hintergrund sei es Cicero unmöglich gewesen, ein wirklich ethisches Prinzip zu entwickeln, das nicht auf den Schöpfer Gottes als vollkommenes Gesetz zurückzuführen sei.
In der Ambrosiusforschung geht es nicht nur um seine Philosophie und Ethik, sondern auch um die schriftstellerische Leistung von Ambrosius, und Paul Ewald untersucht in seiner Dissertation 1881, inwiefern sich Ambrosius vom stoischen Muster Ciceros lösen konnte. Sein Urteil über Ambrosius’ schriftstellerische Leistung ist niederschmetternd. Ewald attestiert Ambrosius eine „notorische Unselbstständigkeit seines wissenschaftlichen Denkens“7. Zwar versuche dieser als Erster, eine konzise Darstellung der Ethik zu erarbeiten, doch sei diese nicht von innovativen Impulsen geprägt, sondern Ambrosius mache sich aufgrund der „aus seinem christlichen Bewusstsein geborenen Aeusserungen von seiner antiken Vorlage [...] abhängig.“8 Sogar die spezifisch christliche Bestimmtheit wird seinem Werk als Konsequenz seiner Abhängigkeit vom römisch-heidnischen Vorbild abgesprochen.9
Nur 14 Jahre später unterstreicht dagegen Raymond Thamin10 in einer umfangreichen Untersuchung gerade den christlichen Charakter des ambrosianischen Werkes. Auch Pierre de Labriolle11 bescheinigt Ambrosius zum einen die Übernahme heidnisch-ciceronischen Vokabulars, zum anderen jedoch auch eine Loslösung von Cicero und eine Verchristlichung der philosophischen Morallehre.
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