Das Erstellen ungewöhnlicher und irrealer Bildkompositionen ist insbesondere durch Computerprogramme möglich. Oftmals wirkt das Endprodukt so authentisch, dass unklar ist, ob wir unseren Augen trauen können oder ob ihnen ein Streich gespielt wird. Dies gilt für Standbilder, aber auch für animierte Videoproduktionen (cf. Abb. 9).
Abb. 9: Wolkenreiter (N.N.)
Etwaige Techniken der Bildverarbeitung und -manipulation werden insbesondere in der Werbung angewandt, um die Blicke der Zuschauer zu gewinnen. Dabei handelt es sich um ständig wechselnde Reize, wie etwa häufige Schnitte, spezielle Kameratechniken und dynamische Darstellungen seitens der Akteure, die unseren Orientierungsreflex maßgeblich steuern. Im Vergleich zu Texten und Bildern „zeichnet sich […] nur das Filmverstehen durch ein Maximum an Verstehensökonomie und gleichzeitiger Reizabwechslung aus“ (Weidenmann 1988, 94). Die Verarbeitung gemäß dem Prinzip des geringsten Aufwandes ergibt sich aus dem hohen Grad an Stimulation, dem unsere Wahrnehmung ausgesetzt ist.
Für unser Gehirn stellen die genannten Korrektur- und Selektionsmechanismen kaum eine Herausforderung dar, vielmehr ist das Gegenteil der Fall: „das [konzeptgesteuerte] Zusammenspiel von Bildfragmentierung und Bildergänzung gehört für uns zur Routine visueller Alltagskommunikationen“ (Schrader 1998, 32).
Ähnliches gilt für den bei Film und Video parallel zum Sehverstehen stattfindenden Hörprozess. So erfolgt die Bedeutungskonstruktion des Gehörten ebenso durch datengesteuerte top-down und konzeptgesteuerte bottom-up Prozesse. Ihr Zusammenspiel charakterisiert sich zum einen durch den Rückgriff auf Vorwissen und den situativ gegebenen Kontext, zum anderen durch die Analyse und Semantisierung linear abfolgender sprachlicher Signale (cf. Grünewald/Küster 2009, 170).
Hinsichtlich der Aufmerksamkeit des Betrachters wird im Wesentlichen zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Aufmerksamkeit unterschieden. Willkürliche Aufmerksamkeit meint das interessengesteuerte intentionale Hinwenden zu Sachverhalten, Themen und Gestaltung, die die Neugierde des Einzelnen wecken. Stoßen wir dagegen auf unerwartete Reize unserer Umwelt, deren Gestaltung durch grelle Farben oder ungewöhnliche Elemente unsere Beachtung findet, ohne dass der Inhalt von persönlichem Belang ist, spricht man von unwillkürlicher Aufmerksamkeit (cf. Sass 2007, 6).
Natürlich kann nicht alles, was wir wahrnehmen, auch aufgenommen, verarbeitet und gespeichert werden. Dementsprechend unterscheidet man in der Fremdsprachendidaktik zwischen dem von außen auf uns einwirkenden Input und dem, was davon verstanden wurde – dem Intake. Bezogen auf das Medium Film umfasst der Begriff des Inputs alle fremdsprachlichen Artikulationen und Beiträge – ungeachtet dessen, ob sie vom Lernenden verstanden wurden oder nicht. Die Bezeichnung Intake beschränkt sich dagegen auf diejenigen Elemente, die vom Rezipienten verstanden wurden und seinen sprachlichen Lernprozess beeinflussen. Bedingt durch die Tatsache, dass selbst kurze Videosequenzen über einen hohen Grad an verbalem sowie nonverbalem Input verfügen, fördert das Zusammenspiel von Bild und Sprache den Übergang vom Input zum tatsächlichen Intake (cf. University of Texas at Austin 2010).
3.3 Lernpsychologische Überlegungen
Von all unseren Sinnesorganen stellen die Augen die vermutlich bedeutendste Verbindung zum menschlichen Gehirn dar. Verglichen mit dem Tast- (8 %) und Hörsinn (3 %) nimmt die visuelle Wahrnehmung mit über zwei Millionen Nervensträngen ganze 30 % des Großhirns ein. Es ist daher kaum verwunderlich, dass der Mensch in der Lage ist, ein Farbbild im Bruchteil einer Sekunde zu erschließen. Burmark (2008, 8) zufolge vollzieht sich die visuelle Wahrnehmung sogar 60.000 Mal schneller als etwa die Verarbeitung eines Texts.
Doch trotz dieser enormen Leistung unseres Gehirns erschließen sich visuelle Eindrücke keineswegs immer von selbst. Stattdessen ist eine visuelle Lesefähigkeit ( visual literacy ) erforderlich, um Bildreize erfolgreich erfassen und interpretieren zu können. Diese im Zuge der visuellen Wende oftmals als „bildungsrelevante […] Kulturtechnik“ bezeichnete Fähigkeit ist bei Jugendlichen trotz ihrem täglichen Umgang mit visuellen Medien meist nur oberflächlich ausgeprägt (Michler 2011, 141). Folglich muss die Kompetenz der Bildentschlüsselung gezielt geschult werden, sodass „ausgehend von den Sehgewohnheiten der Schüler […] ein sachkritischer Blick auf ein Bild eingeübt und eine reflektierte Auseinandersetzung mit Visualisierungen angebahnt werden“ kann (ibid. 142). Dies erfordert allerdings, wie alle anderen Fertigkeitsbereiche, ein gezieltes Training mittels einer entsprechenden Didaktisierung, denn „systematisches Bildverstehen […] verlangt nicht weniger Wissen und mentalen Aufwand als [beispielsweise] systematisches Lesen“ (Weidenmann 1988, 177). Zur Heranführung und Optimierung des Hör-Seh-Verstehens bewährt sich daher eine Dreiteilung in Aktivitäten vor, während und nach der audiovisuellen Rezeption. Nur so kann der Lerner aktiv mit dem Medium in Verbindung gebracht und passive Rezeption vermieden werden.
Wie dem Begriff zu entnehmen ist, impliziert Hör-Seh-Verstehen neben Sehverstehen immer auch Hörverstehen. Der Verstehensprozess wird für den Rezipienten dahingehend erleichtert, dass unter Heranziehen der visuellen Dimension das Gehörte direkt auf seine Plausibilität verifiziert werden kann. Anhaltspunkte sind Mimik, Gestik, Verhaltensmuster, Umgebung, aber auch die Gesamtsituation als solche. Allerdings konnte empirisch nachgewiesen werden, dass eine Verbesserung der Hörverstehensleistung erst dann gegeben ist, wenn der visuelle Input „den auditiven Input in sinnvoller Weise ergänzt“ (Porsch/Grotjahn/Tesch 2010, 181).
So zeigt der Vergleich zwischen kontext- und inhaltsbezogenen Visualisierungen, dass insbesondere letztere einen positiven Effekt auf das Verständnis haben. Im Gegensatz zu inhaltsbezogenen Visualisierungen (e.g. Verbildlichung einer vorgetragenen Geschichte), die in direktem Zusammenhang zu dem Inhalt des Gesagten stehen, können kontextbezogene Visualisierungen (e.g. Visualisierung eines Sprecherwechsels) unter Umständen sogar negative Auswirkungen auf den Verstehensprozess des Rezipienten haben (cf. Ginther 2002, 134, 163).
Folglich sind Lernvideos, deren Bildmaterialien nicht in direktem Zusammenhang mit der Tonspur stehen, eher ungeeignet, um das fremdsprachliche Hörverstehen zu unterstützen. Das hier angeführte Beispiel (cf. Abb. 10) hat laut Titel und Inhalt die Karwoche in Spanien la semana santa zum Gegenstand, zu deren Anlass landestypische kirchliche Prozessionen stattfinden, die von der Bevölkerung begleitet werden. Wie anhand der Abbildung deutlich wird, gibt die Bildspur des Lernvideos jedoch lediglich Auskunft über den Sprecher, der im Großformat den Zuschauern zugewandt seinen Sprechertext vorträgt. Auch die im Hintergrund zu erkennenden Bilder stehen in keinerlei Zusammenhang mit dem Thema des Lernvideos. Dementsprechend stellt sich unweigerlich die Frage nach dessen Mehrwert gegenüber einem reinen Hördokument.
Abb. 10: Beispiel eines ungünstigen Lernvideos (Klink/Willenbrinck 2012) © Unión Europea, 1995–2016
Gerade die Simultanität visueller und akustischer Zeichen stellt in der Regel eine Unterstützung für Lernende dar, obgleich in Einzelfällen die Gefahr einer Überlastung nicht ausgeschlossen ist (cf. Hu/Leupold 2008, 58). Aufgrund der Tatsache, dass die im Lernvideo dargestellten Informationen tendenziell leicht nachvollziehbar sind, können eventuelle Verständnisschwierigkeiten durch nonverbale Komponenten ausgeglichen werden.
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