Aber damit hätte er doch auch gleich noch herumgeprahlt, oder?
„Guten Tag, Miss Smith.“
Ohne den Kopf zu heben, wies Prof. Kentwell auf den einzelnen Stuhl, der in der Mitte des runden Zimmers stand. Es war ein einfacher Holzstuhl, der mit Sicherheit aus dem Gründungsjahr der Uni stammte und im krassen Gegensatz zu der hochmodernen Rotunde mit den glänzend weißen Wänden und der indirekten Beleuchtung stand.
„Guten Tag, Professor Kentwell”, erwiderte ich und nahm Platz.
Es war ungewohnt, dem Professor hier zu begegnen, und dann auch noch quasi wie auf dem Präsentierteller zu sitzen. Ich fühlte mich wie der rote Fleck auf einer Zielscheibe. Das war gruselig. Wenn ich für Kentwell arbeitete, hielten wir uns stets in seinem kleinen Büro auf. Doch das wurde gerade renoviert. Ich wusste das, weil ich sämtliche siebentausendvierhundertdreiunddreißig Mathebücher in Kartons geräumt und dabei in eine Computerdatei eingegeben hatte. Inklusive Coverfotos, die ich mit meinem Smartphone geschossen hatte.
Kentwell hob nicht mal den Kopf. Er blätterte in meiner Masterarbeit. 50 Seiten reine Mathematik, in einem klassischen blauen Einband. Der von dem Arschkriecher war rot. Ekelhaft. Hauptsache auffallen.
Heute fiel allerdings auch ich mehr auf als sonst.
Auf Tinas dringendes Anraten hatte ich ein Kleid angezogen und hoffte, dass mir mein weibliches Äußeres half. Ich war sogar versucht, die Beine sexy übereinander zu schlagen, aber ich verkniff es mir. Tina würde mich natürlich nachträglich dafür steinigen. Die Bestnote war nämlich nicht nur für den Bonus erforderlich, sondern auch für eine qualifizierte Arbeitsstelle.
„Nun, Miss Smith. Ich weiß, wie sehr Sie die Mathematik lieben. Und, ich muss sagen, die Mathematik liebt Sie. Ich bin in weiten Teilen mit Ihrer Arbeit einverstanden.“
Kentwell hob endlich den Kopf, stutzte kurz und lächelte mir dann zu, während mir die Gesichtszüge entgleisten.
„In weiten Teilen?“, stammelte ich und schlug jetzt doch die Beine übereinander.
Der Professor grinste beinahe unmerklich. „Mit ihren Schlussfolgerungen bin ich nicht ganz einverstanden.“
„Was ist denn mit meinen Schlussfolgerung nicht in Ordnung?“
Ich gab’s ja zu, dass ich gerade bei den Schlussfolgerungen besonders häufig mit den Gedanken bei Jacob gewesen war, aber davon war die Qualität meiner Arbeit unberührt geblieben.
„Ich habe den Eindruck, dass Sie mit den Gedanken nicht ganz bei der Sache waren.”
Oh nein!
„Wie meinen Sie denn das?“
„Ihre Ausführungen wirken fahrig, nicht vollständig durchdacht. Gerade von Ihnen hatte ich mehr erwartet. Dieser Meinung ist übrigens auch der Zweitgutachter. Ich dürfte Ihnen das eigentlich nicht verraten, aber da Sie meine ehemalige Hilfskraft sind und ich stets sehr zufrieden …“
Jetzt war ich doppelt geschockt. Ich schnappte nach Luft, was zu meinem Erschrecken klang wie das Katzentörchen an der Haustür meiner Eltern, wie ein blechernes Klappern. Kentwell hob beide Augenbrauen. Er war mir plötzlich so fremd. Dabei hatte ich doch drei Jahre für ihn gearbeitet.
„Wieso bin ich Ihre ehemalige Hilfskraft?“
„Miss Smith, dass ich das ausgerechnet Ihnen erklären muss. Sobald die Masterthesis beurteilt ist, sind Sie keine Studentin mehr und damit können Sie auch nicht mehr als studentische Hilfskraft für mich arbeiten. In jedem Fall möchte ich mich bei Ihnen für die langjährige, stets zufriedenstellende Zusammenarbeit bedanken. Zugleich möchte ich Ihnen zu einem ganz hervorragenden magna cum laude gratulieren.“
Ich sank in meinem Stuhl zusammen wie ein Luftballon, aus dem die Luft entwich. Magna cum laude. Ernsthaft?
Das war nur die zweitbeste Note.
„Aber Prof. Kentwell …”
„Suchen Sie sich eine schöne, gemütliche Stelle an einer kleinen, gemütlichen Schule auf dem Lande, heiraten Sie, setzen Sie ein paar nette Kinder in die Welt. Dabei wird Ihnen die Mathematik sehr nützlich sein …”
Ich wollte aufspringen, mich auf Kentwell stürzen und ihm die Fresse polieren. Aber ich besann mich. Ich klimperte mit den Wimpern, senkte die Lider, öffnete sie wieder und schaute Kentwell verführerisch an. Außerdem hatte ich in meinem ganzen Leben niemandem die Fresse poliert.
Und an der Endnote kann man gar nichts mehr ändern? , klangen Tinas Worte in meinen Ohren.
„Und an der Endnote kann man gar nichts mehr ändern?“, erklang meine eigene Stimme.
Das war ekelhaft. Wie ich mich schämte! Ich spürte, dass ich knallrot anlief. Ich hätte mir selbst vor die Füße kotzen können. Aber hier ging es um mein Leben. Um meine Zukunft. Die konnte ich mir doch nicht von einem übrig gebliebenen Macho versauen lassen. Oder von einem schwulen Feigling, wie Ron glaubte. Ich musste mich zur Wehr setzen. Meine Arbeit war wirklich sehr gut. Sehr sehr gut. Ich hatte auch sämtliche Vorleistungen mit der allerbesten Note bestanden. Ich konnte ganz objektiv beurteilen, wie gut meine Masterthesis war. Sie war eindeutig besser als die von dem blöden Michael. Darum hätte ich zumindest dieselbe Note verdient wie er. Das war so ungerecht!
„Miss Smith?”
„Ja, Professor?” Ich schürzte die Lippen.
„Haben Sie mir etwa gerade Sex angeboten, damit ich Ihre Note anhebe?“
Wie tief konnte man eigentlich sinken? Jetzt hatte ich mein Studium in meinem absoluten Traumfach abgeschlossen, in dem Fach, in dem meine einzige Begabung lag. Ich war immer fleißig gewesen und hatte alles gegeben. Ich hätte sogar noch mehr gegeben: Mich.
Eiskalt wäre ich mit Kentwell ins Bett gestiegen oder hätte mich über seinen Tisch geworfen und ihm meinen Hintern entgegengestreckt. Alles hätte ich getan. Ich hatte ja sogar demonstrativ an dem Gummirand meiner sexy halterlosen Nylonstrümpfe gezupft. Nicht mal darauf war Kentwell angesprungen. Es war so beschämend. Wahrscheinlich war der Professor wirklich stockschwul.
Ich heulte, wie ich nicht geheult hatte, seit ich vor drei Monaten am Flughafen von Buffalo abgeflogen war. Die Tränen plätscherten mir vor die Füße. Man hätte meinen können, es regnete, was eventuell daran lag, dass es wirklich in Strömen goss. Was auch sonst? Und einen Schirm hatte ich natürlich auch nicht dabei. Wozu brauchte ich auch einen? Mein Leben war eh gelaufen. Meine Karriere als Mathematikerin an einem College war heute den Bach runter gegangen. Und ich weigerte mich, über Alternativen nachzudenken. Alles andere als eine Karriere am College war indiskutabel für mich. Ich hatte doch so darauf hin gearbeitet.
Ich war nur noch ein paar Schritte von Rudy’s Bar entfernt, dem letzten Arbeitsplatz, den ich seit dem unrühmlichen Abschluss meines Studiums noch hatte, als mir klar wurde, dass die Heulerei meine Kontaktlinsen weggeschwemmt hatte. Und jetzt gleich würde ich auch noch Rudy anbetteln müssen, damit er meine Stunden aufstockte.
Noch mehr Arbeit zwischen notgeilen Kerlen, die mir an den Hintern packten. Das heute war der absolute Tiefpunkt in meinem Leben.
„Miss, kann ich Ihnen helfen?“, sprach mich ein Passant an, als ich gerade unter heftigsten Tränen darüber nachdachte, ob das heute Erlebte oder mein Erlebnis mit Jacob schlimmer waren, während ich gleichzeitig in den Untiefen meiner Beuteltasche nach meiner Brille kramte. Ich sah den Passanten wie durch eine von diesen dicken Plastikfolien mit den Bläschen. Hoffentlich kannte der Typ mich nicht von irgendwoher. Wenn ich noch mehr Pech hatte, war er einer von Rudy’s Gästen.
„Nein”, jaulte ich auf und drehte mich schnell weg. Wo zum Teufel war denn meine Brille? Wenn ich die jetzt auch noch zu Hause vergessen hatte.
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