Mein Alltag, der mich eigentlich beruhigen sollte, fing echt wunderbar an. Gestern schon war Ron eine halbe Stunde zu spät in die Uni gekommen. Vorgestern hatte er mich ganz versetzt. Irgendetwas stimmte da nicht, aber bisher wollte Ron nichts davon wissen.
Als ich das Seminargebäude betrat, war mein Freund immer noch nicht da. Dafür grinste mir Michael, der Blödmann Nr. 1, entgegen.
„Hey-Ho, Emma. Hast du deinen Kopf in Farbe getunkt?“
„Du bleibst einfach immer auf dem Stand eines Elfjährigen, Michael“, entgegnete ich auf das missglückte Kompliment zu meiner aufgehellten Haarfarbe, und setzte mich auf einen der sechs Plätze, die es in diesem Seminarraum leider nur gab.
Mein feinfühliger Studienkollege pflanzte sich natürlich direkt neben mich.
Es war mir schleierhaft, wie der Penner es bis zum Ende des Studiums geschafft hatte. Und ich fürchtete fast, dass er für seine Masterarbeit die Bestnote kassieren würde, während ich wieder mal nur die Zweite war.
Wenigstens kam Ron endlich zur Tür rein gerast.
Aber was war denn mit dem los?
Die sonst stets supergepflegten, roten Haare bildeten ein einziges zerrupftes Entennest. Und erst Rons Haut. Die glich sowieso schon einem Kalkeimer, wenn Ron nicht gerade erregt und deswegen schweinchenrosa war, aber heute sah er aus wie Hui-Buh, das leibhaftige Schlossgespenst.
„Ron! Was ist los?“
Mein Freund ließ sich schwer auf den Holzstuhl zu meiner Rechten fallen. Er seufzte und nickte in Richtung der Tür, durch die soeben Professor Kentwell trat.
„Nachher“, wisperte er und schniefte demonstrativ hinter vorgehaltener Hand.
Oje. Das klang ja furchtbar. Ich schämte mich ein bisschen, als ich dachte, dass der ganze Ärger und Kummer in meinem Alltag auch ein Gutes hatte. Er lenkte mich auf jeden Fall von Jacob ab.
Die Frage war nur, wann die abschreckende Wirkung endlich einsetzen würde.
Während Professor Kentwell einen Vortrag darüber hielt, wie wichtig die Rechtschreibung in Abschlussarbeiten war, und welchen enormen Einfluss eine gute Ausdrucksweise in derselben Abschlussarbeit auf die Note hatte, vibrierte mein Handy alle paar Minuten.
„Du solltest es dir zwischen die Beine klemmen“, zischte Ron mir zu.
„Zu den juckenden Stoppeln, die ich dir und deinem Waxing zu verdanken habe?“, zischte ich zurück und drückte den eingehenden Anruf weg.
„Du könntest längst gekommen sein.”
„Blödmann.”
„Also ich finde, dass dein Indianer sich ziemlich viel Mühe mit deinem Sexleben gibt.“
Ich drückte den nächsten Anruf weg und wisperte: „Dir scheint es ja wieder besser zu gehen.”
„Von wegen. Aber wenn Pfirsich-Jacob mit Orgasmus-Garantie dir wirklich egal ist, dann verstehe ich nicht, warum du dein Handy nicht ausschaltest. Und wieso hat der überhaupt deine Nummer? Tina?“
Ich nickte mit bösem Blick.
„Könnten Sie beide ihre Privatgespräche eventuell auf die Zeit nach Studienabschluss verschieben? Bis dahin brauchen Sie nämlich alle Gehirnzellen für das Studium. Besonders Sie beide.“
„Verzeihung, Professor Kentwell“, sagte ich beschämt. Im selben Moment traf ich eine Entscheidung.
„Ich besorge mir noch heute eine neue Handy-Nummer. Ich schwöre, bei unserer Freundschaft”, flüsterte ich Ron zu.
„Gute Idee. Und wenn du schon bei den Neu-Anschaffungen bist, besorg dir auch gleich noch ein neues Herz.”
Ich nickte. Ein neues Herz war wirklich dringend erforderlich, denn in dem, das momentan in meiner Brust herumjaulte, war Jacob drin.
2
Das Gute an Melanie war ihre absolute Loyalität. Obendrein war sie helle im Köpfchen und sie sah fantastisch aus. Ganz gleich, wo sie auftauchte, die bewundernden Blicke der Männer waren ihr gewiss. Ihre offensichtlichen positiven Eigenschaften öffneten ihr Tür und Tor. Besonders die Kerle waren gern bereit, sich von ihr ansprechen und ausfragen zu lassen.
Außerdem hatte sie eine unglaubliche Beobachtungsgabe. Ich legte großen Wert auf Melanies Urteil, denn in 99 Prozent aller Fälle traf sie damit voll ins Schwarze. Darum hatte ich sie auf diesem Trip mitgenommen, anstatt mich von einer heißen Lady vom Escort begleiten zu lassen.
Außerdem vertraute ich ihr zu 100 Prozent.
„Deine Augen sind so blutrot, als hättest du mal wieder die ganze Nacht gearbeitet - oder gesoffen. Vermutlich beides. Du solltest eine Sonnenbrille aufsetzen, um keine Kinder oder alte Damen zu erschrecken“, empfing sie mich in der Hotel-Lobby, noch bevor sie mir einen guten Morgen wünschte.
Tja, Melanies großartige Beobachtungsgabe hatte auch Nachteile.
Zumal in ihrer Bemerkung das Wort Brille vorkam, das seit einiger Zeit für mein Gehirn mit einer gewissen Frau verbunden und für mich zum Unwort des Jahres aufgestiegen war.
„Lass uns sofort durchstarten“, entgegnete ich und schob sie durch die Drehtür. Ich würde mich nicht vor ihr rechtfertigen. Ich arbeitete und trank so viel wie ich wollte, und nicht so wenig wie gut für mich war. Da ließ ich mir von niemandem reinreden. Nicht mal von meiner großartigen Assistentin, die im Übrigen das Gehalt eines Vorstandsvorsitzenden kassierte. Sie hatte jeden einzelnen Cent verdient, aber ich konnte auch verlangen, dass sie ihren Röntgenblick auf andere Objekte richtete als auf ihren Boss.
Kindern und alten Damen begegneten wir an diesem Tag sowieso nicht.
„Taxi, Sir?“, fragte einer der beiden Hotelpagen, die links und rechts vom Eingang des Luxushotels standen.
Ich nickte und der Angestellte im Livree schoss auf das nächste Yellow Cab zu, das am Straßenrand vor dem Hotel auf Gäste wartete, und hielt Melanie und mir die Tür auf.
„Zum Javits Convention Center, bitte“, sagte ich zu dem schwarzen Fahrer.
Das Taxi quälte sich durch Midtown Manhattan und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, seit wir gestern in New York angekommen waren, in welchem Stadtteil wohl Emma wohnte. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass es entweder Brooklyn oder die Bronx sein musste, denn welche Orte konnte eine Studentin sich sonst leisten?
Dass Emma reiche Eltern hatte, die sie mit einem hübschen Apartment in Manhattan pamperten, konnte ich ausschließen. In dem Fall hätte sie sicher keinen Job für eine vom Magen-Darm-Virus gebeutelte Freundin übernehmen müssen. Dann hätte sie Daddy angerufen und ihm die Kohle aus der Tasche geleiert, die sie und ihre ans Klo gefesselte Freundin so dringend brauchten. Wenn ausgerechnet ein Mädel wie Emma das Callgirl gab, konnte es nur am Geldmangel liegen.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte ich bloß ihre Freundin, von der ich die Telefonnummer hatte, und die mir bereitwillig Emmas Nummer gegeben hatte, nach der Adresse zu fragen brauchen. Noch drei Monate nach dem letzten meiner zahlreichen peinlichen Hinterlassenschaften auf Emmas AB, konnte ich die Nummer im Schlaf aufsagen. Leider galt die Ziffernfolge seitdem nicht mehr.
Ich hätte die Universitäten abklappern können, um Emma zu finden, oder einen Privatdetektiv einschalten. Meine alten Freunde hatten mir das empfohlen. Als wäre ich nicht selbst auf diese Ideen gekommen. Aber wenn jemand sogar seine Nummer wechselt, um einen loszuwerden, war das ein Zeichen. Eins, das leider ziemlich an mir nagte.
Na, super. Mein Ablenkungsmanöver funktionierte ja ganz toll. Ich war in dieser Stadt, um zu arbeiten und somit nie wieder an den kleinen Tollpatsch zu denken, der mich eiskalt hatte abblitzen lassen.
Dabei hatte ich in diesem Jahr eigentlich schon im Indian Summer mit der Arbeit abgeschlossen gehabt. Der letzte Deal mit Larry Henderson allein hatte Millionen eingebracht. Doch ich kannte keine bessere Möglichkeit, um meine Gedanken in produktive Bahnen zu lenken. Wenn ich im Geld zu ersaufen drohte, konnte ich es immer noch für einen guten Zweck spenden.
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