Man kann sich vorstellen, dass manche Menschen einen ausgeprägteren Neurotransmittermangel haben als andere und deshalb von Medikamenten eher profitieren. Das heißt nicht, dass die einen Medikamente benötigen, die anderen nicht. Vielmehr kann eine vorübergehende oder langzeitige Behandlung bei manchen Menschen wichtiger sein als bei anderen. Es kann sogar sein, dass insbesondere in der Anfangsphase der Krise ein ganzes Arsenal von Medikamenten notwendig ist, um eine Destabilisierung zu verhindern. Das Gehirn ist jedoch äußerst regenerationsfähig und reagiert positiv auf jede stimmige therapeutische Unterstützung.
Medikamente in Form von Psychopharmaka sind eine Möglichkeit, den Betroffenen unerträgliches Leiden zu nehmen und die therapeutische Verarbeitung möglich zu machen. Die alleinige medikamentöse Therapie bringt allerdings keine wirkliche Heilung und erhöht die Gefahr einer erneuten Erkrankung.
Der Grund ist, dass die Ursachen nicht erkannt und bearbeitet werden und sich deshalb an den zugrunde liegenden ungesunden Mustern nichts verändert. Allerdings möchte ich erwähnen, dass gewisse Mangelzustände stofflicher Art und manche Grunderkrankungen ähnliche Symptome verursachen wie Depression oder Burnout. Ich denke hier an die Wochenbettdepression, die Schilddrüsenunterfunktion oder schwere Allgemeinerkrankungen. In diesen Fällen bedarf es gezielter ganzheitlicher Behandlung und unterstützender Medikamente, damit auch die Seele wieder ins Gleichgewicht kommen kann. In den Kapiteln über Körpersymptome und Nahrung für die Seele wird darauf näher eingegangen.
In der heutigen Medizin gibt es gute therapeutische Behandlungsansätze, die sich ständig weiterentwickeln. Dabei kommt es weniger auf die verwendeten Methoden als auf die heilende Beziehung zwischen dem Hilfesuchenden und dem Behandler an, mit dem gemeinsam nach Wegen aus der Krise gesucht wird.
Es ist mir ein Anliegen, mit diesem Buch von der Festschreibung von Krankheitszuständen wegzukommen und Heilung nicht als einen idealen Endzustand, sondern als einen Prozess betrachten, der in vielen kleinen Schritten gelingen kann. Auf diese Weise erschließen sich neue Denkhorizonte und die Kreativität, die es braucht, um auch mit schwierigen Krankheitsverläufen umgehen zu können. Ich möchte deshalb die bei jedem Menschen vorhandenen Selbstheilungskräfte in den Vordergrund stellen, die dann wirksam werden, wenn sich günstige Bedingungen dafür ergeben: das Gefühl, wirklich verstanden zu werden, die Möglichkeit sich selbst zu verstehen, bessere Lebensumstände wie zum Beispiel ein geschütztes Umfeld, stärkende Substanzen, vor allem aber wirksame Strategien, die einem Menschen das Gefühl geben: „Ich bin nicht ohnmächtig, sondern handlungsfähig.“
Wenn man bedenkt, dass sich erst seit etwa zehn Jahren Behandlungskonzepte für schwer traumatisierte Menschen entwickeln, kann man ermessen, wie viele an Depression Leidende noch keine Hilfe finden konnten. Auch gibt es keine Patentrezepte für Menschen, die an einer zunehmend süchtigen Gesellschaft mit all ihrer Wohlstandsverwahrlosung und der damit verbundenen Sinnentleerung leiden. Jedoch haben mir meine guten Erfahrungen in der Arbeit mit Depressiven, die schon sehr lange krank oder wiederholt erkrankt waren, bestätigt: Heilung im Sinne einer geglückten Lebensbewältigung ist grundsätzlich immer möglich.Mit welchen Hilfsmitteln, ob mit oder ohne medikamentöse Unterstützung, sei dahingestellt. Sie, die Sie auf der Suche nach Antworten sind, werden hier viele Anregungen finden, wie Sie einen Schritt weiterkommen auf dem Weg zu Ihrer ganz persönlichen Gesundheit, nämlich der Fähigkeit, Ihr Leben wieder selbst zu steuern. Heilung setzt also die folgenden Schritte voraus:
•die Symptome verstehen
•das System beruhigen
•gute Rahmenbedingungen schaffen
•neue Perspektiven entwickeln
An der Tür des Aufenthaltsraumes einer psychosomatischen Klinik fand ich folgenden Spruch, dem nichts hinzuzufügen ist:
„Krankheit ist ein Symptom verirrten Lebens. Sie drosselt das Tempo falscher Bewegung. Denn verlangsamtes Leben findet zu sich selbst zurück. Der Körper verweigert sich weiterer Oberflächlichkeit und zwingt das Leben in die Tiefe.“
Foto Franziska Bauß
Themenkreis 1: Die Krise ist da
Der erste Schritt
Zum Verständnis:
Es gibt ein einfaches Grundprinzip: Alles, was wir annehmen , kann sich wandeln. Alles, was wir zu vermeiden versuchen, nicht wahrhaben wollen oder wogegen wir ankämpfen, bleibt so, wie es ist, oder verstärkt sich. Vor allem aber: Für unser Gehirn ist das sehr anstrengend und macht nur zusätzlichen Stress. Diese Einschätzung mag Ihnen vielleicht absurd vorkommen oder nach Fatalismus klingen. Dem ist nicht so. Annahme heißt, den derzeitigen Zustand voll und ganz anzunehmen. So verrückt es für Sie klingen mag:
Lassen Sie innerlich los, indem Sie die Schultern locker lassen und ausatmen. Gestehen Sie sich ein: „Ja, ich bin gerade in einer Krise. Ich weiß weder ein noch aus und ich brauche Unterstützung.“ Damit hört der Kampf auf und in Ihrem Innern kommt etwas zur Ruhe. Das ist der erste Schritt auf Ihrem Heilungsweg .
Es ist geradezu eine paradoxe Intention, die Depression mit all ihren Begleiterscheinungen wie Verzagtheit, Angst und innerer Leere willkommen zu heißen im Sinne einer wichtigen Information, die Ihnen etwas sagen und von Ihnen ganz persönlich verstanden werden möchte.
Warum wehren wir uns dann so vehement gegen diesen Zustand? Nun, Annehmen ist nicht so einfach. Krank sein will kaum jemand. Jeder Mensch kämpft erst einmal dagegen an, sich schlecht zu fühlen oder gar krank zu sein, selbst wenn es nur eine Grippe ist. Erst recht kämpfen wir, solange es geht, gegen Stimmungstiefs oder Schwächezustände an. Sie stören das eigene Selbstbild, insbesondere, wenn wir gelernt haben, immer zu funktionieren und uns stark zu zeigen. Vielleicht sind Sie außerdem seit Jahren an Gefühle des Unwohlseins und innere Spannungszustände gewöhnt. Gestresst, unglücklich und überanstrengt zu sein gehört für Sie vielleicht zum normalen Lebensgefühl. Auch deshalb fällt es schwer, sich auf einmal als schonungsbedürftig zu bezeichnen und die Krankheit anzunehmen.
Immerhin ist es ein gutes Zeichen unseres Menschseins, dass wir so lange wie möglich hoffen, es würde uns von alleine bald wieder besser gehen. Hinzu kommt, dass die Depression eine Diagnose ist, die in unserer Gesellschaft immer noch mit Scham besetzt ist. Viel „besser“ ist es, einen Herzinfarkt zu bekommen. Die Gesellschaft honoriert diese Diagnose sehr viel eher. Würde man den Herzinfarkt als „die Krankheit des gebrochenen Herzens“ bezeichnen, so hätte dies einen deutlichen Imagewechsel zur Folge. Ich halte deshalb das Eingeständnis, seelische Probleme zu haben und Hilfe zu suchen, für einen sehr mutigen Schritt, mit dem der Heilungsprozess beginnt. Indem wir wenigstens für einen Moment die unangenehmen Symptome willkommen heißen und sie genau ansehen, geben wir unserer Seele die so notwendige Entlastung. Der Kampf hört auf und der seelische Stresspegel wird sofort „heruntergedimmt“.
Ich erinnere mich an eine Frau, die seit Jahren gewohnt war, ihr Grundgefühl von Überforderung, das schon als Kind sehr ausgeprägt war, tapfer „wegzudrücken“. Ihre innere Leere und viele Körpersymptome signalisierten jedoch den starken seelischen Schmerz und sie hatte große Angst davor, dies zuzugeben. „Nein, das muss man unterdrücken!“, war ihre Überzeugung, die sie mit heftigem Kopfschütteln bekräftigte. Als ich ihr die Angst vor der „Kapitulation“ nahm und sie zu diesem überwältigenden Gefühl von Überforderung, Ohnmacht und Selbstabwertung stehen konnte, entspannte sich ihr ganzer Körper: „Jetzt, wo ich es zulasse und Ihnen glauben kann, dass das nicht gefährlich ist, geht es mir besser“, bemerkte sie .
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