Die Rede verschlug dem politischen Leben Berlins den Atem. Stoeckers Agitation bekam neuen Auftrieb, seine schwache Partei erwies sich plötzlich als eine Kraft, mit der man rechnen mußte. Von 1879 bis in die Mitte der achtziger Jahre hielt die sogenannte Berliner Bewegung, mit Stoecker als ihrem hervorragendsten Führer, die Hauptstadt in Aufruhr. Ihr Gedankengut war ein Gemisch aus christlichsozialen, konservativen, orthodox-protestantischen, antisemitischen, sozialreformerischen und staatssozialistischen Elementen. Das Konservative Zentralkomitee wurde ihr Hauptquartier; Handwerker, Büroangestellte, Studenten, untere Beamte, kleine Geschäftsleute und andere Mittelständler stellten den größten Teil ihrer Anhängerschaft.
Das Ziel, das Stoecker sich gesetzt hatte, trieb ihn dazu, den Antisemitismus zum Mittelpunkt seiner Agitation zu machen. Zwar war es ihm mißlungen, die Sozialdemokratische Partei zu verdrängen oder ihre Wählerschaft zu spalten, aber die Regierung hatte sich dieser Bedrohung auf ihre eigene Weise entledigt. 1878 war die Sozialdemokratie für gesetzwidrig erklärt worden; sie konnte nur noch unterirdisch weiterarbeiten. Der politische Liberalismus war jetzt der Hauptgegner, und im Kampf gegen »jüdischen Liberalismus« gab es keine bessere Waffe als Antisemitismus. Hinzu mag gekommen sein, daß Stoecker aus Furcht, von anderen Agitatoren überflügelt zu werden, den antisemitischen Kurs einschlug. Sein Freund und Biograph Oertzen stellt fest: »Die Notwendigkeit des Kampfes [gegen die Juden] ergab sich aus dem überschäumenden Interesse, das er erweckte. Tausende von Zeitungsartikeln, hunderte von Broschüren, ungezählte starke Bücher wurden verfaßt, um die [jüdische] Frage zu erörtern und klare Ziele herauszuarbeiten.« 65)
Stoecker selber betrachtete sich nie als Antisemiten; sein erklärtes Ziel war, die Flamme des Christentums in den Herzen seiner Anhänger zu schüren und seine Bewegung auf den Felsen des christlichen Glaubens zu gründen, nicht auf den Haß gegen die Juden. Am 23. September 1880 schrieb er dem Kaiser:
»Im übrigen habe ich in allen meinen Reden gegen das Judentum offen erklärt, daß ich nicht die Juden angreife, sondern nur dies frivole, gottlose, wucherische, betrügerische Judentum, das in der Tat das Unglück unseres Volkes ist.« 66)
Offenbar aber lockten seine antijüdischen Attacken und seine mittelständlerischen Forderungen mehr Zuhörer an als der christliche Inhalt seiner Reden (66a). Stoeckers Biograph Frank ermittelte aus Polizeiakten, wie stark der Besuch verschiedener seiner Veranstaltungen war 67):
DATUM |
THEMA |
BESUCHERZAHL |
5. März1880 |
König Hiskia und der Fortschritt |
1000 |
9. April1880 |
Die Judenfrage |
2 000 |
30. April1880 |
Ist die Bibel Wahrheit? |
500 |
24. September 1880 |
Die Judenfrage |
2 000 |
19. November1880 |
Das Dasein Gottes |
1000 |
17. Dezember1880 |
Das Alte und Neue Testament |
700 |
21. Januar1881 |
Das Handwerk einst und jetzt |
2 500 |
28. Januar1881 |
Die Sünden der schlechten Presse |
3 000 |
4. Februar1881 |
Die Judenfrage |
3 000 |
11. Februar1881 |
Obligatorische Unfallversicherung |
3 000 |
Wie tief die öffentliche Meinung aufgerührt war von dem Kampf gegen die Juden, geht aus der zeitgenössischen Literatur hervor. Wawrzinek stellt in seiner Studie »Die Entstehung der deutschen Antisemitenparteien (1873–1890)« 68) eine Bibliographie von über fünfhundert Büchern, Broschüren und Artikeln aus jener Zeit zusammen, die sich ausschließlich mit der »Judenfrage« beschäftigen. Was sich in diesen Jahren in Berlin ereignete, wirkt wie ein Vorspiel zu dem, was fünfzig Jahre später geschehen sollte. Zwei Berichte – einer aus christlicher, der andere aus jüdischer Feder – mögen das politische Klima der Reichshauptstadt veranschaulichen. 1885 schrieb ein Berliner Mitarbeiter der Christlichen Monatsschrift in Barmen:
»Welche Wendung in Berlin vor sich gegangen ist, kann nur derjenige würdigen, der die Stadt zehn Jahre nicht gesehen und plötzlich wieder hineinversetzt wird. Er würde schon staunen, wenn er in ein kleines bescheidenes Restaurant eintritt und hier den ›Reichsboten‹ nicht bloß ausgelegt, sondern auch von dem kleinen Handwerker und Arbeiter begierig gelesen findet. Er müßte, bei den Erinnerungen an ehemals, wo man in diesen Kreisen das reaktionäre Blatt samt seinem Leser zur Tür hinausgeworfen hätte, sich geradezu an die Stirn fassen, ob er nicht träumt. Er würde dasselbe tun müssen, wenn er die Zeitungsfrau in das Hintergebäude drei oder vier Treppen hoch das ›Deutsche Blatt‹ tragen sieht. Ist denn da oben unter dem Dach nicht mehr die exklusive Domäne der ›Volkszeitung‹? Woher der Eindringling? Nun, er kommt von Stoecker und keinem anderen. Er hat die Umwandlung bewirkt. Der Fremde, der zehn Jahre lang Berlin nicht gesehen hat, sieht plötzlich gegen Abend das Gedränge in den Straßen eines Stadtviertels immer dichter werden. Er läßt sich vom Strom mit fortreißen und kommt in eine konservative Wahlversammlung. Tausende sind versammelt, Tausende müssen aus Mangel an Platz draußen zurückgehalten werden. Alle Stände sind vertreten, vom Arbeiter hinauf bis zum Offizier in Zivil und bis zu dem auf einer Tribüne hinter einer Säule sich nur schlecht verbergenden Minister. Es geht ein lebhaftes Geflüster durch die des Redners harrende Versammlung. Mit einemmal wird es still, dann atemlos still und dann wieder stürmisch laut. Hofprediger Stoecker ist in den Saal getreten, und ein donnerndes Hoch aus den Tausenden von Kehlen, ein Hoch, das nicht enden will, empfängt den populärsten Mann Berlins, einen Hofprediger! Der Fremde denkt nach, er verweilt mit seinen Gedanken bei jener konservativen Versammlung, die er vor zehn Jahren besucht hatte. Er hat davon noch die Empfindung einer Krankenstube. Vornehmer war die damalige Versammlung, aber klein und gichtbrüchig. Wer hat dieses Wunder vollbracht?« 69)
Der andere Bericht stammt von dem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Bamberger; als er 1883 von einer mehrmonatigen Auslandsreise nach Berlin zurückkehrte, schrieb er angeekelt in sein Tagebuch:
»Gleich in den ersten Tagen hörte ich im Vorübergehen zweimal gemeine Äußerungen über Juden, ohne daß damit eine Absicht auf mich im Spiele war, sondern nur weil mein Ohr sie erhaschte. Einmal waren es sogar Arbeiter. Jetzt, nach längerem Aufenthalt, ist man wieder aguerri. Ich sage, man muß nicht hinaus, damit der Gestank nicht weicht, wenn man einmal die Nase voll hat. Lüftet man sich, so muß man das Experiment von neuem durchmachen.« 70)
Warum fand Stoeckers Agitation gerade um diese Zeit so großen Widerhall? Gründe für die Dynamik des Antisemitismus können nur in der Dynamik der Gesellschaft gefunden werden. 1870 war ganz Deutschland freihändlerisch 71). In erster Linie war Preußen damals bestrebt, Beschränkungen des Binnenhandels aus dem Wege zu räumen und die dafür notwendige Einheitlichkeit der Gesetzgebung zu erreichen. Jeder Schritt zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands bedeutete einen preußischen Sieg im Kampf um die »kleindeutsche« Lösung.
Als Großproduzenten von Exportgetreide traten die preußischen Konservativen natürlich für Freihandel ein. »Der Schutzzoll ist der Schutz gegen die Freiheit der Inländer, da zu kaufen, wo es ihnen am wohlfeilsten und bequemsten scheint, also ein Schutz des Inlandes gegen das Inland.« Diese typisch manchester-liberale Gesinnung vertrat im Oktober 1849 ein Junker vor dem preußischen Abgeordnetenhaus – es war Bismarck 72). Wie überall führte auch in Deutschland die Industrialisierung zu erhöhtem Verbrauch von Konsumgütern, also zu steigenden Getreide- und Bodenpreisen. Die Preissteigerung Anfang der siebziger Jahre veranlaßte Agrarier, mehr Land unter den Pflug zu nehmen und Verarbeitungsbetriebe anzugliedern. Die dafür nötigen Investitionen verschafften sie sich durch Aufnahme von Krediten. Dann brach der Markt zusammen. In anderen europäischen Ländern und in Übersee war es nicht anders; auch in den Vereinigten Staaten wurden die Landwirte von ihren Gläubigern – den Bankiers der Ostküste – bedrängt und mußten den Staat um Intervention bitten, aber ihre Beschwerden gegen »Wall Street« hatten nicht den antijüdischen Unterton, der die Beschuldigungen der deutschen Landwirte gegen die »Börsenmächte« charakterisierte.
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