Das Septennat – es wurde 1880 erneuert – bedeutete einen Sieg für Bismarck, aber der Kampf um seine Annahme hatte wieder den Sprung im Unterbau des Reiches bloßgelegt: die Unvereinbarkeit des Prinzips des Obrigkeitsstaates mit dem der Mehrheitsherrschaft, ein Gegensatz, der sich auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zeigte. Jede Äußerung gegen die Staatsautorität, sei es in der Kunst, der Politik, der Erziehung oder den Sozialwissenschaften, wurde als Bedrohung des Regimes angesehen. Besonders die liberale und sozialistische Presse ging dem Kanzler gegen den Strich und erregte leidenschaftlichen Haß in allen konservativen, christlichsozialen und »national gesinnten« Kreisen, denen die ganze »jüdische Journaille« als Nährboden autoritätsfeindlicher Gesinnung galt. Kritik an der Obrigkeit mußte als umstürzlerisch und unpatriotisch verdammt werden.
Dennoch weigerte sich der Reichstag 1874 und 1876, Gesetzesvorlagen des Kanzlers zuzustimmen, mit denen er die sozialdemokratische Presse zum Schweigen bringen wollte. Schnell war die junge sozialistische Arbeiterbewegung angewachsen, trotz aller Hindernisse, die ihr die Regierung in den Weg legte. Ende der siebziger Jahre schon mußte der Bismarcksche Staat in der Sozialdemokratischen Partei seinen wichtigsten und gefährlichsten Gegner sehen. Einer der Hauptgründe des Kanzlers für den Kurswechsel in seiner Innenpolitik war sein Entschluß, sich dieser revolutionären Bedrohung zu entledigen. Aber solange die beiden liberalen Parteien, Fortschrittler und Nationalliberale, sich gegen jede Ausnahmegesetzgebung sträubten, konnte Bismarck sein antisozialistisches Programm nicht durchsetzen. Der Widerstand der Liberalen mußte gebrochen werden.
Bismarck gelangte zum Ziel mit Hilfe eines politischen Zwischenfalls, bei dem es ihm meisterhaft gelang, sich die wirtschaftliche Unzufriedenheit, kulturelle Erbitterung und politische Furcht, die im deutschen öffentlichen Leben lauerten, zunutze zu machen. Am 11. Mai 1878 verübte der Klempnergeselle Hödel, ein Halbirrer, der kurze Zeit der Christlichsozialen Partei angehört hatte, jetzt aber von der Polizei als Sozialdemokrat bezeichnet wurde, ein mißglücktes Attentat auf Kaiser Wilhelm I. Das war die Gelegenheit, auf die Bismarck gewartet hatte. Als der Kanzler von dem Mordanschlag unterrichtet wurde, soll er triumphierend ausgerufen haben: »Jetzt haben wir sie.« »Die Sozialdemokraten, Durchlaucht?«, wurde er gefragt. »Nein«, antwortete er, »die Liberalen.« 76)
Sofort brachte der Kanzler im Reichstag eine Gesetzesvorlage ein, die auf das Verbot der Sozialdemokratischen Partei hinzielte. Die Liberalen, glaubte er, könnten es sich jetzt, wo es um die Bestrafung einer »Mörderpartei« ging, nicht mehr leisten, für die Unverletzlichkeit von Bürgerrechten einzutreten. Aber er hatte sich verrechnet. Die Vorlage wurde abgelehnt, mit den Stimmen der meisten Nationalliberalen. Drei Wochen später verübte ein Anarchist, Nobiling, ein zweites Attentat auf den Kaiser; dieses Mal wurde der Monarch ernstlich verletzt. Die öffentliche Entrüstung war groß. Obwohl der Reichstag erst am 10. Januar 1877 gewählt worden war, löste Bismarck ihn sofort wieder auf und schrieb Neuwahlen aus. Jede Opposition wollte er in einer patriotischen Kampagne für »König und Vaterland« ersticken; alle Kräfte, die ihm im Wege standen, galten als Vaterlandsfeinde, als umstürzlerische Internationalisten, als Freunde und Beschützer von Mördern; die liberalen Elemente in der Beamtenschaft wurden eingeschüchtert; es sei ein Schaden für das Land, ließ der Kanzler verlauten, wenn so viele Anwälte, Beamte und Gelehrte – »Männer ohne produktive Berufe« – im Reichstag säßen.
Die Kampagne »gegen den roten Terror« führte zur Auslöschung der liberalen Reichstagsmehrheit in den Wahlen vom 30. Juli 1878. Die Nationalliberalen, die schon 1877 von 152 Abgeordneten auf 127 gefallen waren, brachten es nur noch auf 98 Sitze, die Fortschrittler auf 26 gegenüber 35 im Jahre 1877 und 49 im Jahre 1874. Die Konservativen dagegen erhielten 59 Mandate, während sie 1877 nur 40, 1874 sogar nur 21 hatten erringen können; die Mandate der Freikonservativen stiegen von 33 bzw. 38 in den vorigen Wahlen auf 56. Die Zentrumspartei konsolidierte ihre früheren Erfolge; sie behielt ihre 93 Sitze von 1877; schon 1874 waren es 91 gewesen (77). Jetzt konnte die Regierung auch mit den Konservativen und mit dem Zentrum regieren.
Die entmutigten Nationalliberalen gaben ihren Widerstand auf. Als Bismarck eine neue, nodi schärfere Gesetzesvorlage gegen die Sozialdemokratie einbrachte, stimmten sie für die Ausnahmegesetzgebung und halfen mit, das »Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« vom 21. Oktober 1878 durchzubringen. Dieses berüchtigte »Sozialistengesetz« erklärte die Partei für gesetzwidrig und ermächtigte die Polizei zur Auflösung »sozialdemokratischer Vereine« – nämlich der Partei-Ortsgruppen – und von »Vereinen, in denen solche Bestrebungen zutage treten«; Gewerkschaften, Arbeiterclubs und praktisch alle sonstigen Organisationen waren damit der Polizeiwillkür ausgeliefert. Den Anhängern der Sozialdemokratie wurde Presse- und Versammlungsfreiheit genommen; die Polizei war befugt, »Agitatoren« (das heißt alle, in denen sie eine Gefahr für Ruhe und Ordnung sah) aus den Großstädten auszuweisen. Das Aufstellen von Wahlkandidaten blieb den Sozialisten jedoch gestattet, das Abhalten von Wahlversammlungen auch, aber nur in Anwesenheit der Polizei.
Viermal wurde das ursprünglich bis zum 31. März 1881 befristete Gesetz verlängert, jedesmal mit den Stimmen der Nationalliberalen. In ihrer Hoffnung, sich durch Zustimmung zum Sozialistengesetz die Gunst Bismarcks wieder erkaufen zu können, sahen sie sich jedoch schwer getäuscht. Sie hatten ihren politischen Feinden nur einen neuen Beweis dafür geliefert, daß es nicht mehr möglich war, gegen den Nationalismus, gegen bedingungslose Treue zu Kaiser und Reich, zu opponieren. Die konservativ-monarchischen Kräfte konnten ihre Ernte einbringen.
Kaum hatte Bismarck die Sozialdemokratie aus dem Wege geräumt, als er sich anschickte, den Liberalismus vollends niederzuringen. Die Regierung begann eine systematische Konsolidierung der Staatsverwaltung und eine Reorganisierung des Beamtentums, aus dem alle »unzuverlässigen«, das heißt alle liberalen Elemente entfernt wurden; besonders das Heer sollte vor Ansteckung durch den Liberalismus geschützt werden 78). Die Konservativen aller Richtungen und das Zentrum–Bismarcks neue Reichstagsmehrheit – nahmen die Vorlage für eine neue Wirtschaftsund Sozialgesetzgebung an. Ideologisch und wirtschaftlich einigte diese Politik die Kräfte, die unter der Autorität von Thron und Altar einen »christlich-nationalen Staat« wünschten. Der Liberalismus, in die Enge getrieben durch die manipulierte Angst vor der sozialistischen Revolution, hatte ausgespielt. Sein rechter Flügel, die Nationalliberalen, war seitdem stets bereit, sich auf die Seite der herrschenden Macht zu schlagen, falls diese ihn überhaupt als Partner akzeptieren wollte. Die zusammengeschrumpfte Fortschrittspartei – »Vorfrucht der Sozialdemokratie« hatte Bismarck sie genannt 79) – kam als Teilnehmer an einer parlamentarischen Mehrheit sowieso nicht in Frage.
KAPITEL III
Konservativer Staat und soziale Demagogie
Der Antisemitismus hatte gute Dienste geleistet, als es galt, politischen Katholizismus und preußischen Konservatismus zusammenzukoppeln, schwankende Liberale einzuschüchtern und nationalistische Instinkte zu entfesseln. Seine Wortführer konnten sich jetzt auf gute Beziehungen zur Staatsautorität berufen; wenn diese auch lässige Vorbehalte machte, kam ihr die Judenhetze doch recht gelegen. Der politische Antisemitismus wurde respektabel, weil es sich immer deutlicher zeigte, daß die Regierung ihm den Rücken stärkte. Eugen Richter, der Führer der Fortschrittspartei, sagte am 12. Januar 1881 im Reichstag:
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