Damit wird Abschnitt 1.1 dieses Kapitels zuerst aufzeigen, dass Kant, ausgehend sowohl vom transzendentalen Weg ( a priori ) als auch von der Erfahrung ( a posteriori ), Gott zu denken versucht. Beide Methoden, nämlich die apriorische (transzendentale) und aposteriorische Methode, lassen sich aus den unterschiedlichen Texten Kants zusammenfassen. Danach wird die transzendentale Methode im zweiten Abschnitt des Theologie-Hauptstückes der KrV, dessen Titel „von dem transzendentalen Ideal“ heißt, in Abschnitt 1.2 analysiert. Hier bezeichnet Kant Gott als das ens realissimum . Der Begriff vom enti realissimo schafft die Grundlage des Theologie-Hauptstückes, bzw. die Grundlage der Kritik an drei traditionellen Gottesbeweisen. Daneben werde ich in Abschnitt 1.3 weiter über die aposteriorische Methode diskutieren und beobachten, welche wichtige Rolle die Analogie spielt, um Gott zu denken. Nachdem diese beiden Methoden erklärt worden sind, werde ich in Abschnitt 1.4 darauf hinweisen, dass beide Methoden auf Gott als den Urheber der Materie und der Form der Welt hinführen.
1.1 Die Denkbarkeit Gottes bei Kant
Kurz vor dem Ende der Transzendentalen Dialektik, nämlich in dem Abschnitt Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft , hat Kant eine schöne Zusammenfassung seiner transzendentalen Theologie vorgelegt:
„Frägt man denn also (in Absicht auf eine transscendentale Theologie) erstlich: ob es etwas von der Welt Unterschiedenes gebe, was den Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte, so ist die Antwort: ohne Zweifel […] Ist zweitens die Frage, ob dieses Wesen Substanz, von der größten Realität, nothwendig etc. sei: so antworte ich, daß diese Frage gar keine Bedeutung habe […] Ist endlich drittens die Frage, ob wir nicht wenigstens dieses von der Welt unterschiedene Wesen nach einer Analogie mit den Gegenständen der Erfahrung denken dürfen: so ist die Antwort: allerdings, aber nur als Gegenstand in der Idee und nicht in der Realität, nämlich nur so fern er ein uns unbekanntes Substratum der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung ist, welche sich die Vernunft zum regulativen Princip ihrer Naturforschung machen muß.“1
In diesem Absatz drückt Kant folgende Meinung aus: Es gibt bestimmt etwas, auf dessen Grund die Weltordnung und ihre Zusammenhänge basieren. Wir haben allerdings hinsichtlich der Eigenschaften dieser übersinnlichen Dinge keinerlei Erkenntnis wegen der Unfähigkeit unseres Verstandes, die Grenze der Sinnenwelt zu überschreiten. Trotzdem können wir nach einer Analogie mit den Gegenständen der Welt dieses übersinnliche Wesen denken, doch bezieht sich diese Analogie nur auf die systematische Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung. Daraus wird ersichtlich, dass das berühmte regulative Prinzip eng mit der Analogie verbunden ist.2
Ein Satz aus diesem Zitat verdient besondere Beachtung: „Ist zweitens die Frage, ob dieses Wesen Substanz, von der größten Realität, nothwendig etc. sei: so antworte ich, daß diese Frage gar keine Bedeutung habe.“ Kants Meinung dazu widerspricht offensichtlich dem Inhalt des zweiten Abschnitts des Theologie-Hauptstückes, in dem Kant, ausgehend vom „Prinzip der durchgängigen Bestimmung“, Gott als das ens realissimum betrachtet. So schreibt Kant: „Wenn wir nun dieser unserer Idee, indem wir sie hypostasiren, so ferner nachgehen, so werden wir das Urwesen durch den bloßen Begriff der höchsten Realität als ein einiges, einfaches, allgenugsames, ewiges etc., mit einem Worte, es in seiner unbedingten Vollständigkeit durch alle Prädicamente bestimmen können.“3 D.h. Gott als das ens realissimum könnte durch alle Prädikate bestimmt werden. Außerdem weist Kant im siebten Abschnitt, dessen Titel „Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der Vernunft“ lautet, noch darauf hin, dass das höchste Wesen4 ein fehlerfreies Ideal ist, „dessen objective Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann“,5 „die Nothwendigkeit, die Unendlichkeit, die Einheit, das Dasein außer der Welt (nicht als Weltseele), die Ewigkeit ohne Bedingungen der Zeit, die Allgegenwart ohne Bedingungen des Raumes, die Allmacht etc. sind lauter transscendentale Prädicate,“6 daher sind sie geeignet, Gott zu bestimmen.
Nun scheint es aber in der kantischen Gotteslehre ein Paradox zu geben. Doch kann dieses Paradox aufgelöst werden. Ich möchte behaupten, dass diese scheinbare Kontroverse uns zwei verschiedene Methoden, Gott zu denken , ermöglicht: Wenn die Eigenschaften Gottes durch die systematische Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit bestimmt werden, nennen wir es die aposteriorische oder analogische Methode; wenn die Prädikate Gottes nur durch die Vernunft erkannt werden, dann nehmen wir eine apriorische oder transzendentale Methode in Anspruch. Wegen der Unterschiedlichkeit beider Methoden entsteht ein Gott mit jeweils verschiedenen Eigenschaften. Genauer gesagt, in Hinsicht auf die transzendentale Methode geht der Prozess gänzlich von „Dingen überhaupt“ aus, ohne irgendeine konkrete Eigenschaft der Dinge oder irgendeine besondere Befindlichkeit der Welt zu berücksichtigen, nämlich der Prozess geht unmittelbar vom Prinzip der durchgängigen Bestimmung aus. Dadurch wird Gott als Inbegriff aller Realitäten bzw. als das allerrealste Wesen (das ens realissimum ) bezeichnet. Im Vergleich dazu geht die analogische oder aposteriorische Methode von der Erfahrung, nämlich von der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung aus. Bei dieser Denkweise wird Gott immer im Verhältnis zu den speziellen Eigenschaften der Welt betrachtet, d.h. wir denken Gott als die höchste Intelligenz, weil er den Grund der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welt bildet.
Diese beiden Methoden gehen eigentlich auf den Gottesbeweis Kants in seiner vorkritischen Periode zurück. In dem Werk Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (im Folgenden als Naturgeschichte bezeichnet) beweist Kant physikotheologisch7 das Dasein Gottes.8 Dieser Beweis geht offensichtlich auf die aposteriorische oder analogische Methode zurück, obwohl Kant in der KrV Kritik daran übt. Im gleichen Jahr (1755) erschien Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (im Folgenden als Nova dilucidatio bezeichnet), dessen zweiter Teil bzw. dessen PROP. VII eine anfängliche kantische Version des ontotheologischen Gottesbeweises beinhaltet, wo Kant behauptet: „Datur ens, cuius exsistentia prävertit ipsam et ipsius et omnium rerum possibilitatem, quod ideo absolute necessario exsistere dicitur. Vocatur Deus.“9 Folglich ist Gott als das ens necessarium bewiesen. Schließlich fasst Kant in Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (im Folgenden als Beweisgrund bezeichnet) den physikotheologischen Beweis in der Naturgeschichte und den ontotheologischen Beweis der Nova dilucidatio zusammen. Er betrachtet den ontotheologischen Beweis als einzig möglichen, der bei der Möglichkeit aller Dinge anfängt, die Gott als notwendigen Grund voraussetzt und schließlich das notwendige Dasein Gottes beweist. Nachdem Kant einen ontotheologischen Beweis vorgelegt hat, wendet er seine Aufmerksamkeit einem physikotheologischen Beweis im dritten Teil von Beweisgrund zu, der umfangreich den Inhalt der Naturgeschichte wörtlich wiederholt.
Daraus folgt, dass Kant die transzendentalen (ontotheologischen) und aposteriorischen (physikotheologischen) Methoden auf den Beweis des Daseins Gottes schon in seiner vorkritischen Zeit verwendet. Obwohl Kant in der KrV beide Methoden heftig kritisiert, behauptet er jedoch nur, dass es unmöglich wäre, mit diesen Methoden auf das Dasein Gottes zu schließen. Niemals leugnet Kant selbst das Potenzial beider Methoden, die Eigenschaften Gottes zu erkennen. Für Kant ist Gott das ens realissimum , das den Kernbegriff nicht nur in der KrV, sondern auch in der Vorlesung über Rationaltheologie bildet, um die drei traditionellen Gottesbeweise zu überprüfen.10 Um dieses Urteil zu bestätigen, ist es hilfreich, hier einen Paragraphen aus der Vorlesung über Rationaltheologie zu zitieren: „Welches sind nun die Prädikate, die sich von einem enti realissimo denken lassen? Welches sind seine Eigenschaften?“11 Um diese Frage zu beantworten, unterscheidet er zwei verschiedene Arten von Prädikaten: „Alle Realitäten sind entweder solche Realitäten, die mir durch eine Vernunft gegeben sind, unabhängig von aller Erfahrung; oder die ich in der Sinnenwelt antreffe.“12 Kant zufolge werden die durch die Vernunft gegebenen Prädikate apriorische, transzendentale und ontologische genannt, während die in der Erfahrung angetroffenen Prädikate aus der Sinnenwelt kommen. Die apriorischen Prädikate sind Prädikate in abstracto und sie umfassen Substanz, Einfachheit, Unendlichkeit usw., aber mit den aposteriorischen Prädikaten wird Gott als die oberste Intelligenz bezeichnet. Diese sind für Theisten wichtig und nützlich, jene aber werden von Deisten benutzt und sind Kant zufolge unbrauchbar.13 Deswegen können wir festhalten, dass für Kant die zwei verschiedenen Methoden ihren je eigenen Nutzen haben.
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