Während diese und die anderen Dialoge sehr berührend waren und zum Nachdenken anregten, war es ziemlich bedauerlich, dass Manuel danach verstummte, was wohl daran lag, dass sich Mara im Korbsessel regte. Wie eine Katze streckte sie sich, während sie herzhaft gähnte. Manuel schien total fasziniert davon zu sein, wie geschmeidig sie ihren superschlanken Körper von links nach rechts drehte.
„Habe ich was verpasst?“, fragte sie spitzbübisch, als sie mit ihrer Darbietung fertig war, und erklärte, dass sie vor sich hingedöst und sich nicht auf die Konversation konzentriert hätte.
Giulia antwortete. „Wir sprachen über Love-Apps – Tinder und Co, darüber, dass man sich in der Liebe auf keine normierten Abläufe festlegen kann und dass …“ Mitten im Satz brach sie ab. In ihrer Haut fühlte sie sich unwohl, obschon sie von Natur aus zuvorkommend und gefällig war. Die Rolle der braven Schülerin, die Rede und Antwort stand, sobald man sie fragte, hatte sie hinter sich gelassen. Manuel könne doch berichten, sagte sie schnippisch, stand auf, um nach Clarissa zu suchen, die wie vom Erdboden verschluckt war.
Eilig ging sie in die Küche, danach durch den Garten die Treppen zum Pool hinunter. „Vielleicht füttert sie ja die Fledermäuschen im Keller, am Hang, unterhalb vom Pool“, rief ihr Mara heiter hinterher.
Der Erdkeller stand offen. Giulia ging langsam und in leicht gebückter Haltung hinein. Ihr Blick wanderte herum. Es schien sich um einen zweckentfremdeten Lagerraum zu handeln, in dem der Gärtner, der auch für die Poolanlage zuständig war, seine Gerätschaften in einer Ecke aufbewahrte. In der gewölbten Decke klafften Risse, und im Gemäuer gab es unzählige Nischen und Löcher durch die Sonnenlicht drang und die kleinen Vampire rein- und rausfliegen konnten. Von einem befreundeten Biologen wusste sie, dass die nachtaktiven und streng geschützten Tierchen auch Gebäude besiedelten, um sich dort tagsüber in den Mauerrissen zu verstecken und sich vor Eindringlingen zu schützen. Der Eigentümer der Finca muss ein Tierschützer sein, überlegte sie, weil er die Nachtjäger nicht aus ihrem Kellerquartier verjagte. Ob sie sich gerade an der Decke kopfüber schlafend festhielten oder im Gemäuer versteckten, konnte Giulia beim besten Willen nicht erkennen. Und ganz gewiss wollte sie die Kerlchen nicht aufscheuchen. Zumal ihr bei dem Gedanken, sie könnten jederzeit über ihren Kopf hinwegfegen, unheimlich wurde und sie sich deshalb auf und davon machte. Als Giulia draußen um die Ecke in Richtung Pool ging und Clarissa mit einer Sichel in der Hand, einem Küchensieb und Beutel wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte, stieß sie einen lauten erschreckten Ton aus.
„Hast du ein Eis dabei?, scherzte Clarissa.
„Nee. Ich habe nach dir gesucht. Und bei der Gelegenheit erfahren, dass sich im Keller Fledermäuse eingerichtet haben. Was machst du hier unten?“
Giulia ließ sich die Furcht vor den Tierchen nicht anmerken und tat so, als sei nichts geschehen. Ihre Freundin liebte Tiere. Fledermäuse genauso wie Lino, den Esel auf dem Nachbargrundstück, den sie täglich mit einem Apfel fütterte.
„Ich sammle Kräuter für die nächste Runde Limo. Die ersten zwei Liter gingen ja weg wie nichts. Außerdem lenkt mich das ab.“
„Aha. Brauchst du Hilfe?“
„Nein. Bin gleich fertig.“
Giulia stieg die Natursteintreppen zur Terrasse wieder hoch. Schon von weitem erkannte sie, dass Mara nach ihr Ausschau hielt. Und als sie an den Tisch trat, warf sie ihr einen fragenden Blick zu. Clarissa würde im Garten Kräuter sammeln, erwiderte Giulia sogleich und fragte Mara leicht provozierend, ob sie denn was verpasst hätte? Mara ging auf ihre Anspielung mit keinem Wort ein, während sich Giulia an die Kopfseite des Tisches setzte, wo sie die Geschehnisse im Blick hatte. Sie war immer noch etwas verstimmt, was sie auf Maras affektiertes Getue zurückführte. Mal sitzt sie da, mal dort. Mal schläft sie, mal beteiligt sie sich, sodass sie stets die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Kennt jemand John Wilson?“, fragte Manuel plötzlich aus heiterem Himmel und unterbach Giulias wirren Gedankenstrom. Gleich darauf lief er ins Haus und kam mit einem Buch unterm Arm rasch zurück. „Ich liebe dich so, wie du bist‘“, sagte er und verriet, dass er das unscheinbare Büchlein vorgestern im Bücherregal entdeckt hätte. Seither würde er zwischendurch zwei, drei Seiten darin lesen. Schneller wäre der kompakte Stoff nicht zu schaffen. Er blätterte ein paar Seiten um, dann wieder zurück, bis er die gesuchte Stelle fand, mit der er sich intensiver auseinandergesetzt hatte. Und zitierte: „dass, wenn die Partner über keine individuellen Fähigkeiten verfügen würden, über Eigenschaften, die dem anderen fehlen und nach denen er sich sehnt, …“ Manuel hielt kurz inne, bevor er weiterlas: „dass dann die erotische Spannung und das Begehren nicht ausreichen würden, die Liebe zwischen zwei Menschen nachhaltig zu nähren.“ Aus einer Beziehung würde vielleicht Harmonie, Wohlwollen, Teilhabe, gegenseitiges Interesse, aber es würde keine elektrisierende Kraft entstehen, wie sie nur zwischen zwei gegensätzlichen Polen aufkommen könne und die für romantisch Liebende von größter Bedeutung sei. Lust und Erotik allein würden auf Dauer zwar stimulierend wirken, in leidenschaftlichen Beziehungen könne das aber zu erotischer Eifersucht und problematischen Machtkonflikten führen, fasste Manuel am Schluss zusammen. Dann legte er das Buch auf den Tisch, die aufgeschlagenen Seiten nach unten und schob sein leeres Glas beiseite. „Beim Lesen ging mir durch den Kopf, dass es dem Millionengeschäft der Onlinepartner-Industrie schnurzpiepegal sein kann, ob diese elektrisierende Kraft zwischen zwei Liebenden entsteht, oder nicht. In erster Linie muss die Kasse stimmen. Den Konzernen und Verlagen, die sich dahinter verstecken, geht es um wirtschaftliche Interessen, darum, jährliche Umsätze in zweistelliger Millionenhöhe zu generieren, weit weg von jeglicher Gefühlsduselei. Und weit weg von philosophisch-schöngeistigen Ansätzen.“ Manuel sah zu Giulia hinüber, gespannt darauf, wie sie sich dazu äußern würde. Ihre freigeistige Haltung schien im gut zu gefallen, da sie horizonterweiternde Beiträge jenseits des Mainstreams in die Gespräche einbrachte, ohne verkrampft und starrköpfig zu wirken. Giulia wiegte sich gerade rhythmisch im Takt der Musik, die aus der Küche drang. Sie machte aber keine Anstalten irgendetwas darauf sagen zu wollen.
„Hits aus den 80ern und 90ern.“ Clarissa tänzelte barfuß mit einem Tablet aus der Küche und schenkte am Tisch die frisch angesetzte Kräuterlimonade in vier Gläser ein.
„Was für eine Wohltat“, schwärmten alle und bedankten sich fast schon überschwänglich für das durstlöschende Getränk.
„Wir haben schon vernommen, dass du im Garten auf der Suche nach Kräutern unterwegs warst“, sagte Mara bestens gelaunt.
„Vegan, durch und durch“, antwortete Clarissa stolz. Sie erhoben ihre Gläser und stießen auf ihr Zusammensein an – den eigentlichen Zweck des Kurztrips.
„Nun sag schon, Giulia, wie findest du die Aussagen von Wilson?“, fragte Manuel sie direkt, „ich würde gern darüber diskutieren.“
„Nun ja. Alex kam mir in den Sinn. Die vielen Machtkonflikte, der Beziehungsstress und, und, und.“ Giulia bedankte sich für den Literaturtipp und meinte, darüber intensiver nachdenken zu wollen. Während sie nach dem Buch griff, das vor ihr auf dem Tisch lag.
„Und du, Mara?“
Manuel war wirklich erpicht darauf, weiter darüber zu diskutieren. Doch Mara zögerte, schaute zur Seite. Es war ein ungewohntes Bild, das die sonst redselige 46-Jährige abgab.
„Was ist?“ Ungeduldig wippte Manuel mit dem rechten Fuß, während Mara schwieg.
„Lass doch“, kritisierte Giulia sein Verhalten. Sie hätte ihn schließlich wegen des Zustands seines Sohnes auch nicht gelöchert. Eher intuitiv nahm sie Mara in Schutz. Am Tisch wurde es still. Nur Lino schrie ein paarmal. Als Manuel im Begriff war wegzugehen, räusperte sich Mara und fing leicht nervös an: „Wilsons Ansätze klingen plausibel. Und, ähm, meine Ex-Beziehung war weder erfüllend noch elektrisierend. Obwohl wir uns gegenseitig respektierten, es harmonisch zuging. Hm. Bis mir schließlich bewusst wurde, dass ich auf Frauen stehe, und ich mich dieser Tatsache stellen muss.“
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