„Frauen?“, unterbrach Manuel, dem erst einmal die Sprache wegblieb.
Maras Stimme klang jetzt rau und belegt, worauf ihr Clarissa Limonade nachschenkte. Sie nahm das Glas, leerte es in einem Zug und gestand, dass sie sich zunächst heimlich auf verschiedenen Plattformen umgeschaut und gezielt nach Frauen gesucht hätte.
Manuel griff nach der zerknautschten Zigarettenschachtel, drehte sie auf dem Tisch hin und her.
„Ehrlich?“
„Maximal ehrlich!“
Mara hatte sich wieder gefangen, und ihre Stimme klang klar und kräftig wie eh und je. Ihr spontanes Coming-out kam für alle überraschend. Im Gegensatz zu Clarissa und Giulia war Manuels seelisches Gleichgewicht doch ein wenig aus dem Lot geraten.
„Aha, jetzt verstehe ich auch deinen Kommentar, dass Frauen ohne romantisches Brimborium Lust auf Sex haben können. Ich habe mich schon gefragt.“ Clarissa fasste sich an den Kopf, so als ob sie gerade eine wichtige Entdeckung gemacht hatte.
„Bi oder lesbisch?“, fragte Manuel mit einem angespannten Gesicht. Es fiel ihm schwer zu glauben, was er gerade gehört hatte. Und zweifellos musste er jetzt seine Hoffnungen begraben.
„Lesbisch. Seit zwei Jahren wohne ich mit Linda zusammen, und, ähm, bald wird geheiratet. Endlich habe ich mein Glück gefunden und den Menschen, der mir guttut. Mit meinem Ex-Mann verschwendete ich viele Jahre meines Lebens. Immer fehlte mir etwas, das, was man das Gelbe vom Ei nennen könnte. Als schließlich eine neue Kollegin in meine Abteilung kam, geschah es: Ich verliebte mich. Konnte nichts dagegen tun. Mein Single-Leben in London und meine Sucherei im Internet waren auf einen Schlag beendet – obschon es nicht leicht war, mich einer jüngeren Frau zu öffnen, die bereits mit einer Frau verheiratet war, ähm, und über jede Menge lesbischer Erfahrungen verfügte.“
Mara war sichtlich erleichtert und atmete tief ein, als sie aufstand, auf Manuel zuging und ihn von hinten umarmte. Aus ihrem Innern strahlte eine Ruhe und Gelassenheit aus.
„Das muss ich erst mal verdauen.“ Manuel blieb teilnahmslos auf seinem Stuhl sitzen und starrte vor sich hin.
„Ich weiß. Aber danke, dass du nicht locker gelassen hast.“ Mara legte ihm fürsorglich eine Hand auf die Schulter. Um ihrer Freundschaft willen hätte sie ihm das längst sagen sollen, da ihr seine Aufmerksamkeiten und sehnsüchtigen Blicke nicht entgangen seien, erwähnte sie.
Manuel hatte sich gefangen, wirkte selbstsicher und doch betroffen. „Seit der Schulzeit kennen wir uns. Ähm. Damals bin ich voll auf dich abgefahren. Jetzt schäme ich mich über meine Teenagerfantasien und dass ich diesen noch nachhänge. Am meisten bedaure ich aber, dass ich dir keinen Raum ließ, dich mir frei und ohne Zwang anzuvertrauen.“
„Wow. Was für eine großzügige Geste.“ Giulia war begeistert, auch wenn Manuels Worte etwas kitschig und übertrieben klangen. „Und ich dachte, Himmel, was für eine Romanze. Da konnte man schon richtig neidisch werden“, kommentierte sie offen die neue Realität.
„Was soll’s! Hauptsache der Liebeshimmel tut sich über einem auf – ob nun schwul, lesbisch, hetero oder was auch immer. Warum zum Teufel stellen wir uns die Liebe immer nur zwischen zwei Heteros vor?“ Clarissas versöhnlichen Worten, stimmten alle ohne Wenn und Aber zu.
„Dann, dann wollte ich noch was sagen, nämlich, ähm.“ Maras Stimme überschlug sich fast vor Freude. „Nämlich, dass ich mich, ähm, weil ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen wollte, bei ElitePartner angemeldet hatte. Auch, hm, weil ich nach ein paar Jahren ohne feste Beziehung selbstbewusster mit meinen Bedürfnissen und meiner Neigung umgehen – unbeschwerter und freier nach einer Frau suchen konnte. Ich musste erst innerlich heranreifen und mit mir selber klarkommen, bevor ich mich auf das Neue einlassen konnte. Und nun bin ich guten Mutes und kann behaupten, dass jeder Mensch selbst herausfinden muss, was er braucht und ihm guttut. Mit Linda habe ich meine Lebensendliebe gefunden. Sie betreibt inzwischen eine kleine Kunstgalerie in London. Nachdem wir unsere Beziehung etabliert hatten, verließ sie meine Abteilung und fand das, was sie immer schon machen wollte: Moderne Kunst sammeln und verkaufen.“
Giulia eilte in die Küche, holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und brachte sie zusammen mit vier Sektgläsern auf einem Tablett auf die Terrasse. Am Tisch löste sie die Agraffe und ließ den Korken mächtig knallen.
„Darauf stoßen wir jetzt an – auf ein langes Beziehungsglück für Mara und Linda. Auf uns alle. Möge uns die Liebe zufallen, und wir den Mut finden, uns darauf einzulassen.“ Giulia jubelte, als Clarissa einschenkte und Manuel feierlich seine Stimme erhob: „Auf Freundschaft, Liebe und das Leben.“ Offen sprach er dann über seine Liebesbrüche. Und dass er nach der letzten Schlappe eine innere Schutzwand aufgebaut hätte. Er sei zwar kein typischer Casanova, aber mal die, mal jene, das wäre aktuell die einzige Option, auf die er sich einlassen würde. Eine feste Beziehung würde er nicht vermissen. Dagegen das Gefühl von Vertrautheit und Innigkeit, das schöne Gefühl von Gemeinsamkeit, abends auf dem Sofa und morgens beim Aufwachen. Das, ähm, das würde er ehrlich vermissen. Und ließ seinen Blick über seine Zuhörerinnen schweifen.
„Ein bisschen wirkst du jetzt auf mich wie ein erschöpfter Mann mit Eheschaden“, analysierte Giulia scharf und behauptete felsenfest, dass sich alle Sehnsüchte und emotionalen Bedürfnisse im tristen Alltag ändern würden, und man keinen Anspruch auf Schadenersatz hätte, sollten sie unerfüllt bleiben.
„Und doch trachten wir alle danach, mit unseren Sehnsüchten genau diesem Alltag zu entkommen“, vertiefte Clarissa ihren Gedanken.
„Kommt, lasst uns den Rest des Nachmittags allein verbringen“, schlug Manuel vor und fügte hinzu, dass er das alles erstmal verdauen müsse.
„Gute Idee. Mir fehlt sowieso komplett die Konzentration“, entgegnete Mara und meinte schelmisch, dass sie es sich hätte nicht vorstellen können, auf dem Kurztrip in ein Selbstfindungsseminar mit den Freunden zu geraten. Dann kündigte sie an, einen Spaziergang in der Umgebung zu machen.
Da Giulia mit dem Kochen dran war, fragte sie, wer ihr beim Schnippeln des Gemüses und Reinigen der Muscheln helfen würde. Und verabredete sich mit Manuel und Clarissa um 18 Uhr in der Küche. Mara war bereits verschwunden. Clarissa holte zwei kleine Äpfel aus der Küche. „Für Lino“, rief sie Giulia zu und schlenderte pfeifend zum Nachbargelände. Manuel schnappte sich eine Fachzeitschrift für Brückenbau und setzte sich in den Korbsessel in eine Ecke auf der Terrasse, wo er ungestört war. Giulia ging ins Schlafzimmer, um ihren Koffer zu packen. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie fast drei Stunden für sich hatte. Sie warf den Koffer auf eine Betthälfte und fing an, Kleidungsstücke, Schuhe und Geschenke hineinzupacken. Den zur Hälfte gepackten Koffer ließ sie offen auf dem Bett liegen und beschloss, sich auf die freie Betthälfte zu legen, um sich in aller Ruhe die morgige Abreise und die Vorbereitungen für das heutige Abendessen durch den Kopf gehen zu lassen. Auf dem Speiseplan stand: Miesmuscheln auf französische Art mit einer Soße aus Muscadet, Schalotten, Karotten, Stangensellerie, Knoblauch, Kräutern, Crème fraîche.
Darüber musste sie wohl eingeschlafen sein. Denn als sie wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor sechs. Mit einem Satz stand sie neben dem Bett, sauste ins Bad und bespritzte sich das Gesicht mit frischem Wasser. Danach flitzte sie in die Küche, wo Manuel gerade den Sack mit den frischen Miesmuscheln neben die Spüle stellte. Er wirkte sehr entspannt, lachte und sagte, dass ihm bereits der Magen knurren würde.
„Die Schalentiere müssen aber erst gewaschen und geputzt werden“, meinte Clarissa, die zur Tür hereinkam und berichtete, dass Lino sofort den Hügel zu ihr heruntergelaufen sei, als er sie gesichtet hätte. Die Äpfel hätte er im Nu verputzt.
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