»Ekelhaft!«
Dann ruderte sie mit Erik über den See. Sie gingen an Land und setzten sich auf einen Baumstumpf. Ringsum raschelten Lindenblätter. Er flüsterte:
»Ich wollte – Ist Ihnen kalt?«
»Ein bißchen.« Sie zitterte. Aber es war nicht vor Kälte.
»Ich wollte, wir könnten uns dort in das Laub legen, uns ganz zudecken und ins Dunkel hinaussehen.«
»Ich wollte, wir könnten.« Als ob es in selbstverständlicher Tröstlichkeit klar wäre, daß sie nicht ernst genommen zu werden wünschte.
»So wie alle Dichter sagen – braune Nymphe und Faun.«
»Nein. Ich könnte keine Nymphe mehr sein. Zu alt – Erik, bin ich alt? Bin ich verblüht und kleinstädtisch?«
»Aber, Sie sind die jüngste – Ihre Augen sind wie Mädchenaugen. Sie sind so – also, ich meine, als ob Sie alles glauben würden. Sogar wenn Sie mich belehren, komm' ich mir tausend Jahre älter vor als Sie, und nicht ein Jahr jünger.«
»Vier oder fünf Jahre jünger!«
»Auf jeden Fall sind Ihre Augen so unschuldig und Ihre Wangen so zart – verdammt noch einmal, am liebsten möcht' ich weinen, Sie sind irgendwie so schutzlos; und ich möchte Sie beschützen und – Es ist nichts da, wogegen man Sie schützen könnte!«
»Bin ich jung? Ja? Ehrlich. Wirklich?«
»Ja. Sie sind jung!«
»Es ist so lieb von Ihnen, daß Sie das glauben, Will – Erik !«
Sie stand auf.
Er umfaßte ihre Taille mit festem Arm. Sie sträubte sich nicht. Es machte ihr nichts. Er war weder Landschneider noch großmächtiger Künstler. Er war er selbst, und sie war besinnungslos zufrieden. In dieser Nähe sah sie seinen Kopf neu; das letzte Licht hob die Konturen seines Halses hervor, die schmalen, geröteten Wangen, die Vertiefungen an seinen Schläfen. Nicht wie scheue oder verlegene Liebende, wie Gefährten gingen sie zum Boot zurück, und er hob sie hinein.
Während er ruderte, begann sie eifrig zu reden: »Erik, Sie müssen an die Arbeit gehen! Sie müssen eine Persönlichkeit werden. Man hat Ihnen Ihr Königreich geraubt. Kämpfen Sie darum! Lassen Sie sich Unterrichtsbriefe kommen und lernen Sie zeichnen – es taugt ja an sich vielleicht nichts, aber Sie werden dadurch Lust zum Zeichnen bekommen und –«
Als sie wieder zur Gesellschaft zurückkamen, merkte sie, daß es dunkel war, daß sie lange ausgeblieben waren.
Die anderen begrüßten sie mit dem unvermeidlichen Sturm von Witzeleien und kleinen Bosheiten: »Wo habt ihr euch denn rumgetrieben?« – »Ihr seid ja 'n feines Paar, ihr zwei!« Erik und Carola sahen verlegen aus; ihre Bemühungen, witzig zu sein, scheiterten. Auf dem Heimweg fühlte Carola sich nicht recht behaglich. Einmal blinzelte Cy ihr zu. Daß Cy, dieses Küken, sie für seinesgleichen, für eine Sünderin, halten sollte – Sie war abwechselnd wütend und erschrocken und übermütig, und in allen diesen Stimmungen war sie gewiß, daß Kennicott ihr ihr Erlebnis vom Gesicht ablesen würde.
In schüchtern trotziger Stimmung kam sie ins Haus. Ihr Mann, unter der Lampe halb eingeschlafen, begrüßte sie: »Also, also, gut unterhalten?«
Sie konnte nicht antworten. Er sah sie an. Aber sein Blick wurde nicht schärfer. Er begann seine Uhr aufzuziehen und gähnte das alte: »Naaaaaah, wird wohl Zeit zum Schlafengehen sein.«
Das war alles. Doch sie war nicht froh. Sie war fast enttäuscht.
Am nächsten Tag machte Frau Bogart einen Besuch. Sie sah aus wie eine eifrige gackernde Henne. Ihr Lächeln war zu unschuldig. Das Gackern ging sofort los:
»Cy sagt, Sie haben sich gestern beim Picknick kolossal amüsiert. Hat's Ihnen viel Spaß gemacht?«
»O ja. Ich bin mit Cy um die Wette geschwommen. Er hat mich schrecklich geschlagen. Er ist so stark, nicht wahr?«
»Der arme Junge, er ist auch ganz einfach verrückt danach, in den Krieg zu gehen, aber – Der Erik Valborg war auch mit, nicht?«
»Ja.«
»Ich find' ihn sehr hübsch, und er soll auch gescheit sein. Gefällt er Ihnen?«
»Er scheint sehr gute Manieren zu haben.«
»Cy sagt, Sie haben mit ihm 'ne reizende Kahnfahrt gemacht. Herrje, das muß aber hübsch gewesen sein.«
»Ja … ja.«
»Haben Sie bald wieder 'n Picknick vor?«
»Ich hab' noch gar keine Ahnung. Oh! Weint da nicht Hugh? Ich muß schnell zu ihm hinauf.«
Sie konnte gegen das Spionieren der Stadt rebellieren, denn jetzt hatte sie etwas, wenn auch nur Verworrenes, weswegen sie rebellieren konnte. Zu einer leidenschaftlichen Flucht gehört nicht nur ein Ort, von dem man flieht, sondern auch ein Ort, zu dem man flieht. Sie hatte gewußt, daß sie mit Freuden Gopher Prairie, die Hauptstraße und alles, wofür diese Symbol war, verlassen würde, aber sie hatte kein Ziel gehabt. Jetzt hatte sie eines. Dieses Ziel war nicht Erik Valborg und seine Liebe. Sie sagte sich immer wieder, daß sie nicht verliebt in ihn sei, sondern ihn »gern habe und sich für seinen Erfolg interessiere«. Doch an ihm hatte sie zweierlei entdeckt: daß sie Jugend brauchte, und daß die Jugend sie willkommen heißen würde. Nicht zu Erik mußte sie fliehen, sondern zur ganzen fröhlichen Jugend in Collegesälen, in Ateliers, in Büros, bei Versammlungen, die gegen die Zustände überhaupt protestierten … Aber diese ganze fröhliche Jugend hatte einige Ähnlichkeit mit Erik.
Beim Abendessen der Baptistenkirche, eine Woche nach dem Picknick, sah sie ihn wieder. Als Carola ihm ein zweites Mal einen Blick zuwarf, entdeckte sie, daß Frau Bogart sie beobachtete. Voller Entsetzen erkannte sie, daß es jetzt doch etwas gebe, was ihr vor Frau Bogarts Spionieren angst machen konnte.
»Was ist mit mir? Bin ich in Erik verliebt? Untreu? Ich? Ich brauche Jugend, aber ich brauche nicht ihn – ich meine, ich brauche nicht Jugend, nur – auf keinen Fall geht es so weiter! Ich muß raus von hier. Schnell.«
Auf dem Heimweg sagte sie zu Kennicott: »Will! Ich muß für ein paar Tage fort. Möchtest du nicht nach Chicago fahren?«
»Dort ist's noch ziemlich heiß. Vor'm Winter ist in einer großen Stadt nichts los. Warum willst du denn hin?«
»Menschen! Meinen Geist beschäftigen. Ich brauche Anregung.«
»Anregung?« Er fragte gutmütig: »Wer hat dir denn zuviel Fleisch zu essen gegeben? Diese ›Anregung‹ hast du aus einer von den dummen Geschichten über Weiber, die nicht wissen, was mit ihnen los ist. Anregung! Aber im Ernst, Spaß beiseite, ich kann nicht weg.«
»Warum willst du mich dann nicht allein fahren lassen?«
»Ja – Es ist nicht das Geld, verstehst du. Aber was geschieht mit Hugh?«
»Gib ihn zu Tante Bessie. Es wär' ja nur für ein paar Tage.«
»Ich halt' nicht viel davon, Kinder aus dem Haus zu geben. Es ist nicht gut für sie.«
»Du meinst also nicht –«
»Ich will dir was sagen: ich meine, es ist besser, wir verschieben die Sache bis nach dem Krieg. Dann wollen wir 'ne blendende lange Reise machen. Nein, 's wird wohl besser sein, du denkst jetzt nicht viel an Wegfahren.« So wurde sie Erik in die Arme getrieben.
Um drei Uhr morgens wurde sie wach, und scharf und kalt, wie ihr Vater Verdikte ausgesprochen hatte, urteilte sie:
»Eine jämmerliche kitschige Liebesgeschichte.
Nichts Schönes, nichts Starkes. Eine kleine Frau, die sich selbst täuscht, die in Ecken mit einem kleinen Zierbengel flüstert.
Nein, das ist er nicht. Er ist schön. Strebsam. Es ist nicht seine Schuld. Seine Augen sind schön, wenn er mich ansieht. Schön, so schön.«
Es jammerte sie, daß ihr Roman jämmerlich sein sollte.
Dann ließ sie in übergroßer Sehnsucht nach Rebellion all ihren Haß los: »Je kitschiger und jämmerlicher es ist, um so schlimmer für die Hauptstraße. Das zeigt nur, wie sehr ich darauf gewartet habe, zu entfliehen. Jeder Ausweg, jede Erniedrigung, wenn ich nur entrinnen kann. Das hat die Hauptstraße mit mir gemacht. Hergekommen bin ich voll Eifer nach edlen Dingen, bereit, zu arbeiten, und jetzt – Jeder Ausweg.«
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