Sie lag auf dem Ruhebett.
Vida fuhr ihr übers Haar: »Ich hätte nicht –«
Vor Beschämung halb' sinnlos, merkte Carola nicht, wann Vida sich fortschlich. Als die Uhr halb sechs schlug, fuhr sie auf. »Ich muß mich wieder in der Hand haben, bevor Will zurück ist … Hoffentlich erfährt er nie, was für eine dumme Gans ich bin … Erfrorene, höhnische, grauenhafte Herzen.«
Wie ein sehr kleines, sehr einsames Mädchen schleppte sie sich die Treppen hinauf, langsam, Stufe um Stufe, mit nachschleifenden Füßen, die Hände am Geländer. Nicht ihr Mann war es, bei dem sie Schutz suchen wollte – ihr Vater war es, ihr lächelnder, verständnisvoller Vater, der jetzt schon zwölf Jahre tot war.
Im größten Stuhl ausgestreckt, zwischen der Heizung und einem kleinen Petroleumöfchen lehnte Kennicott.
Vorsichtig: »Will, mein Lieber, ob die Leute hier nicht manchmal etwas an mir auszusetzen haben? Sie müssen doch. Ich meine: wenn sie es einmal tun sollten, darfst du dich nicht darüber ärgern.«
»An dir was aussetzen? Nein, weiß Gott, nichts. Alle sagen mir unaufhörlich, du bist das blendendste Mädel, das sie kennen.«
»Also, ich hab' nur so dran gedacht – die Kaufleute glauben wahrscheinlich, ich mach' zu viel Umstände beim Einkaufen. Ich fürchte, ich gehe Herrn Dashaway und Herrn Howland und Herrn Ludelmeyer auf die Nerven.«
»Ich will dir sagen, was an der Sache ist. Ich wollte nicht davon sprechen, aber da du schon selber angefangen hast: Chet Dashaway ärgert sich wahrscheinlich drüber, daß du die neuen Möbel in der Stadt gekauft hast, statt hier. Ich wollte damals nichts dagegen sagen, aber – Schließlich verdien' ich mein Geld hier, und die Leute erwarten, daß ich's auch hier ausgeb'.«
»Wenn Herr Dashaway die Freundlichkeit haben wollte, mir zu sagen, ob überhaupt ein zivilisierter Mensch ein Zimmer mit den Möbelleichen einrichten kann, von denen er behauptet –« Sie besann sich. Sie sagte demütig: »Aber ich verstehe.«
»Und Howland und Ludelmeyer – Ach, die haben wahrscheinlich irgend was als Spott aufgefaßt, wie du nichts weiter als nett zu ihnen sein wolltest. Aber lächerlich, was geht das uns an! Das ist eine unabhängige Stadt, hier ist es nicht so wie in den Löchern im Osten, wo man auf jeden Schritt, den man tut, achtgeben muß, und nur für dumme Forderungen und gesellschaftliche Gewohnheiten lebt, und für einen Haufen alter Klatschbasen, die immer was zu bekritteln haben. Hier hat jeder die Freiheit, zu tun was er will.« Er sagte das schmetternd, und Carola merkte, daß er es glaubte. Sie verwandelte einen in ihr aufsteigenden wütenden Ausruf in ein Gähnen.
»Übrigens, Carrie, da wir schon einmal davon reden: ich bleib' natürlich gern unabhängig und halte nichts davon, nur mit dem Mann zu handeln, der auch mit mir handelt, wenn's nicht wirklich sein muß, aber trotzdem, es wär' mir sehr lieb, wenn du, soviel du kannst, bei Jenson oder Ludelmeyer einkaufen würdest und nicht bei Howland & Gould, die jetzt immer zu Doktor Gould gehen, mit allen, die zu ihnen gehören. Ich seh' nicht ein, warum ich denen mein gutes Geld für Lebensmittel bezahlen soll, damit sie's an Terry Gould weitergeben!«
»Ich bin zu Howland & Gould gegangen, weil es bei ihnen besser und auch sauberer ist.«
»Ich weiß. Ich mein' ja nicht, daß du überhaupt nicht mehr zu ihnen gehen sollst. Natürlich ist Jenson ein durchtriebenes Luder – er wiegt schlecht – und Ludelmeyer ist so hilflos wie ein dummes Schwein. Aber trotzdem, ich meine, lassen wir das Geld bei unseren Leuten, solang es geht, verstehst du, wie ich's meine?«
»Ich verstehe.«
»Na, 's wird wohl Zeit zum Schlafengehen sein.«
Er gähnte, ging hinaus, um einen Blick auf das Thermometer zu werfen, schlug die Tür zu, streichelte ihr den Kopf, knöpfte sich die Weste auf, gähnte, zog die Uhr auf, ging hinunter, um die Heizung nachzusehen, gähnte wieder und ging polternd hinauf ins Schlafzimmer, sich am dicken wollenen Unterhemd kratzend.
Bis er hinunterbrüllte: »Kommst du überhaupt noch schlafen?« blieb sie unbeweglich sitzen.
Inhaltsverzeichnis
Sie war in die Wiese getrippelt, um den Lämmern einen hübschen Tanz beizubringen, und hatte gefunden, daß die Lämmer Wölfe waren. Sie war bedrückt und sah keinen Ausweg. Sie war von Klauen und boshaften Augen umgeben.
Sie konnte den versteckten Hohn nicht länger ertragen. Sie wollte fliehen. Sie wollte sich in der Gleichgültigkeit einer großen Stadt verstecken. Sie übte sich, Kennicott zu sagen: »Ich denke, ich werde auf ein paar Tage nach St. Paul fahren.« Aber sie konnte sich nicht zutrauen, es gleichgültig zu sagen; sie hätte seinen Fragen nicht standhalten können.
Die Stadt reformieren? Alles, was sie wollte, war: geduldet werden!
Sie konnte die Leute nicht offen ansehen. Sie wurde rot und zuckte zusammen vor Bürgern, die ihr noch vor einer Woche amüsante Studienobjekte gewesen waren, und in den ihr zugerufenen Grüßen glaubte sie grausamen Hohn zu hören.
Sie traf Juanita Haydock in Ole Jensons Lebensmittelgeschäft. Sie rief beschwörend: »Oh, guten Tag! Himmel, was ist das für herrlicher Sellerie!«
»Ja, sieht frisch aus, nicht. Harry muß ganz einfach am Sonntag seinen Sellerie haben. Der Teufel soll den Mann holen!«
Carola eilte aus dem Laden und jubelte: »Sie hat sich nicht lustig über mich gemacht … oder doch?
Nach einer Woche hatte sie sich von ihrem Gefühl der Unsicherheit, der Schande und bekrittelten Popularität erholt, doch sie behielt ihre Gewohnheit, den Leuten aus dem Weg zu gehen, bei. Über die Straßen bewegte sie sich mit gesenktem Kopf. Wenn sie Frau McGanum oder Frau Dyer vor sich erblickte, ging sie auf die andere Straßenseite und tat angestrengt, als ob sie einen Anschlag studierte. Immer spielte sie Theater, für jeden, den sie sah – und für die auf der Lauer liegenden scheelen Augen, die sie nicht sah.
Außer Dave Dyer, Sam Clark und Raymie Wutherspoon gab es keinen Geschäftsmann, bei dessen Gruß sich Carola sicher fühlte. Sie wußte, daß sie selbst den Hohn in die Grüße der anderen hineinlegte, aber sie konnte ihren Verdacht nicht loswerden, konnte sich aus ihrem psychischen Zusammenbruch nicht herausarbeiten. Abwechselnd tobte und erschrak sie vor dem Stolz der Kaufleute. Diese wußten nicht, daß sie grob waren, sie wollten nur zu verstehen geben, daß sie wohlhabend waren und »vor keiner Doktorsfrau Angst hatten«. Sie sagten oft: »Ein Mann ist soviel wert wie der andere – und noch zehnmal mehr.« Diese Devise rühmten sie aber nicht Farmern gegenüber, die schlechte Ernten gehabt hatten. Die Yankee-Kaufleute waren mürrisch; und Ole Jenson, Ludelmeyer und Gus Dahl aus dem »Alten Land« wollten für Yankees gehalten werden. James Madison Howland, in New Hampshire, und Ole Jenson, in Schweden geboren, bewiesen beide, daß sie freie amerikanische Bürger waren, indem sie knurrten: »Ich weiß nicht, ob noch was da ist oder nicht«, oder »Also, es kann gar keine Rede davon sein, daß ich's schon zu Mittag da hab'.«
Für die Kunden gehörte es sich, die Antwort nicht schuldig zu bleiben. Juanita Haydock schnatterte lustig:
»Sie haben's um zwölf da, oder ich reiß' dem frechen Botenjungen die Haare aus.« Doch Carola hatte nie die Fähigkeit besessen, das Spiel freundlicher Grobheit zu spielen, und jetzt war sie sicher, daß sie es nie lernen würde. Sie gewöhnte sich aus Feigheit daran, zu Axel Egge zu gehen.
Axel war nicht respektabel und grob. Er war noch immer ein Fremder und war auch darauf gefaßt, es zu bleiben. Er hatte ein schwerfälliges Benehmen und fragte nicht viel. In keinem kleinen Dorfladen könnte es phantastischer aussehen als in seinem Geschäft. Niemand außer Axel selbst konnte etwas finden. Ein Teil seines Kinderstrumpflagers lag auf einem Regal unter einer Decke, ein Teil in einer Gewürzkuchenbüchse aus Zinnblech, der Rest häufte sich wie ein Nest schwarzer Baumwollschlangen auf einer Mehltonne, die von Besen, von norwegischen Bibeln, getrocknetem Kabeljau für »Ludfisk«, Kisten mit Aprikosen und eineinhalb Paaren Holzfällerstiefeln mit Gummisohlen umgeben war. Das Geschäftslokal war voller skandinavischer Bauernfrauen, die in Tüchern und alten braunen Jacken mit Schinkenärmeln müßig herumstanden und auf die Rückkehr ihrer Männer warteten. Sie sprachen norwegisch oder schwedisch und blickten Carola verständnislos an. Sie waren eine Erleichterung für sie – sie flüsterten sich nicht zu, sie posiere.
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