1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Jadefischs Brauen gingen nach oben. „Sternfinder, das verstehe ich nicht.“
„Die Macht des Blumenliedes kommt von unserm Herrn Tezcatlipoca. Er ist es, der damit die Menschen bezaubert – nicht du.“
„Aber …“
„Du bist nur Sein Gefäß. Mach dich leer, damit Tezcatlipoca in dich eintreten kann.“
Jadefisch legte die Flöte zur Seite. „Wozu bemühe ich mich eigentlich, wenn Ihm die leere Hülle genügt?“
„Jadefisch! Willst du Tezcatlipocas Nähe nicht? Seine Süße, Seinen wunderbaren Duft der kleinen weißen Puffmaisblüte?“
Jadefisch besann sich. „Doch, natürlich.“
„Dann öffne dich. Mach dich leer.“
„Wie, Sternfinder? Soll ich alles, was ich bin, vergessen?“
Sternfinder betrachtete Jadefisch besorgt. Eine dunkle Kraft schien ihn anzutreiben. Das Blumenlied des Tezcatlipoca wurde seit undenklichen Zeiten unverändert weitergegeben. Warum genügte es Jadefisch nicht, es so gut wie möglich zu spielen? Was bewog ihn, vom Muster abzuweichen? Er durfte sich Tezcatlipoca nicht entgegenstellen, noch sich mit Ihm identifizieren. Sonst würde ihn der Gott wie eine Eierschale zerbrechen.
„Wie hast du als Tempelschüler deine Skorpione gefangen?“
„Meine Skorpione?“ Jadefisch verzog angewidert das Gesicht. Die Knaben wurden nachts hinausgeschickt, um giftige Tiere zu sammeln. Die Priester brauchten sie für ihre schwarze Götterfarbe. Damit würde man auch Jadefisch bald bemalen.
„Wie konntest du sie fangen, Jadefisch?”
„Wie man es mich lehrte, Sternfinder.”
„Dachtest du dabei an deine Lehrer? Deine Freunde? Deine Feinde?” „Gewiss nicht.”
„Dachtest du, dass du gestochen werden, dass du gar sterben könntest?”
„Ich weiß nicht mehr. Ich glaube, ich habe an gar nichts gedacht.”
„Nur der Skorpion ist da. Er kriecht über den Boden. Er bewegt seine Scheren. Du, Jadefisch, bist nicht da. Deine Hände funktionieren ohne dich. Dein Geist ist leer wie das Gefäß für deine Beute.”
Fing Jadefisch an zu begreifen? Er sah den Priester-Weisen aufmerksam an.
„Nur der Skorpion ist da”, wiederholte dieser monoton. „Er kriecht, er bewegt seine Scheren.” Endlich entspannte sich Jadefisch. Hatte er verstanden?
Nun, in gewisser Weise. Jadefisch erinnerte den Skorpion und über ihm die feuchte Hand des Kindes. Woran dachte der Stachelbewehrte? Dass er gefangen, ja, zerstoßen werden könnte? Er tanzte, sein kopfwärts gebogener Schwanz mit dem Giftstachel zuckte im Takt, und seine Scheren wippten. Er behexte den ängstlichen Jäger, der seinen Bewegungen folgte, bis er ganz benommen war. Gegriffen hat ihn dann Ayo, Jadefischs Freund. Irgendjemand, irgendetwas rettete ihn immer.
Irgendetwas lag auch in der Luft. Die Menschen schienen auf etwas zu warten. Das mochte der erste Regenfall sein. Wenn jetzt kein Wasser kam, verdorrten die Saaten. Auf dem Weg zum Unterricht begegnete Jadefisch nun den Armen der Stadt, die sich vor dem Palast einfanden. Motecuzoma öffnete für sie den Speicher. Das tat er immer um die Jahreszeit, sobald der Hunger seine Fratze zeigte. Der Regen also. Unterschwellig aber spürte Jadefisch weitere Zeichen des Wandels. Eins-Affe, der um die Mittagszeit gern ein Nickerchen machte, blieb seit ein paar Tagen hellwach, und der Priester-Weise war nicht mehr immer bei der Sache. Neuerdings vergaß er, Jadefisch zu stechen, und ließ zu guter Letzt den Agavendorn im Priesterhaus liegen.
Auch der Amtsvorgänger hatte sich verändert. Einmal traf Jadefisch ihn auf der Straße. Flöte spielend kam er daher. Aber er glitzerte und glänzte nicht wie früher, trug keine goldenen Schellen mehr. Die schwarze Bemalung fehlte, sein Haar fiel nicht mehr lose herab, sondern war hochgesteckt wie bei einem verdienstvollen Krieger. Oh – und Mädchen hatte er bei sich. Als er Jadefisch erkannte, blieb er orakelnd vor ihm stehen. „Merkwürdige Dinge geschehen. Fremde sind an der Küste erschienen. Du wirst Unglaubliches erleben.” Dazu vernahm Jadefisch das irritierende Lachen der Frauen. Das Gottesabbild trieb wohl Schabernack mit ihm. Oder doch nicht?
Schließlich kam der große Festtag des Tezcatlipoca, an dem Sein Erwählter Tenochtitlan verließ. In einem bunt bemalten Boot paddelte man ihn südwärts über den See, um ihn an einem leeren Strand aus Muschelschalen abzusetzen. Von dort aus wanderte er auf die kleine, rote Tempelpyramide des Tezcatlipoca zu. Feierlich erstieg er sie, seine hellen Flöten spielend. Dabei zerbrach er eine nach der anderen und warf die Stücke in die auf dem Platz versammelte Menge. Ein Leuchten ging von ihm aus, das mit jeder Stufe wuchs. Als er die Plattform mit dem Heiligtum betrat, war er ganz von Licht umflossen. So empfingen ihn die Priester, so malte Jadefisch es sich aus, denn er sah ihn gar nicht wirklich. Er befand sich noch im Inneren der Pyramide. Gedämpfte Stimmen drangen zu ihm. Die erregte Menge riss sich um die Reliquien. Immer, wenn Flötenteile niederfielen, johlte sie auf. Das Flötenspiel war auch zu hören, je höher das göttliche Abbild kam, desto reiner und schöner. Schließlich aber verstummte es. Ein Klagegesang erhob sich, schwoll an, verebbte in Schweigen. Der Gott war tot. Die Priester hatten ihm das Herz herausgeschnitten und boten es, damit das Leben fortbestand, der Sonne und dem Kreuz des Windes dar. Es zuckte noch; dem auf die Innentreppe gekauerten Lauscher pochte es in den Ohren. Seine Wahrnehmung setzte aus – er wurde auf die Plattform geschoben. Hinter der Statue des Tezcatlipoca kam er heraus. Der Priester führte ihn weiter, an der Opferschale mit dem Blut des anderen vorbei. Nun stand er oben auf der Pyramide als der erneuerte, der durch das Opfer verjüngte Gott, und wurde vom Volk bejubelt.
Deutlich zeichnete sich das Schicksal vor Jadefisch ab. Es hatte die klaren Konturen des mexikanischen Hochtals, das sich an diesem strahlenden Tag erstmals seinen Blicken auftat.
Er sah den grünen Ring der Berge, die Felder und Haine an ihrem Fuß und tief im Tal die langgestreckte Seenplatte mit ihren kleinen, bewohnten Inseln und den Wassergärten um diese herum. Wie funkelte die Wasserfläche! Wie herrlich schmückte sie das Perlenband der Uferstädte! Und im mittleren der Seen thronte stolz die Metropole Mexico-Tenochtitlan auf ihrer großen, befestigten Insel. Ihre hohen Tempelpyramiden ragten in den Himmel.
Jadefisch blickte nach oben. Dort saß die blaue Himmelsblüte mit dem gelben Pollen, und das Abbild aus Tlaxcallan flog als Kolibri in sie hinein. Jadefisch spürte den Sog, der von ihr ausging. Auch ihm würde die Sonne ihre Macht aufzwingen. Sie übte Gewalt aus, weil sie ohne Blut nicht leben konnte. Was aber wären wir ohne sie? Benommen von ihrer Hitze schloss er die Augen. Das pulsierende Zentrum blieb als dunkler Fleck auf seiner Netzhaut zurück.
Voller Ehrerbietung brachte man Jadefisch nach Tenochtitlan zurück. War das dieselbe Stadt, die er am Morgen verlassen hatte? Das Licht war auf dem Rückzug, so kurz vor Sonnenuntergang eroberten Schatten die Häuser.
Die Pyramide des Tezcatlipoca erhob sich im Südosten des Tempelbezirks auf einem großen, von Arkaden umsäumten Hof. Man geleitete Jadefisch durch den Wandelgang des Priesterhauses, und plötzlich stand sie riesig da! Unwillkürlich duckte er sich. Ihre vier Terrassenkörper türmten sich auf wie ein Ungeheuer. Zum Glück wurden gerade die Fackeln entzündet. Das Rückgrat jenes Tiers war nur die Treppenrampe, sein aufgesperrtes Maul nur die gezackte Mauerkrone auf dem Heiligtum. Jadefisch zieh sich der Torheit. Wie konnte er so kindisch sein?
Aus der Pyramide trat der Oberpriester. „Ixiptla-tzin!“
Ehrwürdiges Abbild? Natürlich. Jadefisch sammelte sich und grüßte zurück.
„Ixiptla-tzin, du wirst die Nacht im Heiligtum verbringen.“
Die unpersönliche Stimme ließ Jadefisch frösteln. Er sah in ein basaltenes Gesicht, in dem die Augen eines Jaguars glühten. Und sehnige Hände hatte der Oberpriester – Hände, die ein Opfermesser zu führen verstanden.
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