Ida Spix - Die zerbrochenen Flöten

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Die Welt der Azteken im Jahr 1519:
Bisher hat der junge Krieger Jadefisch seine Bestimmung, den Opfertod für die Götter zu sterben, hingenommen – bis er sich ausgerechnet in Maisblüte, die Tochter des aztekischen Herrschers Motecuzoma verliebt und in den Machtkampf zwischen diesem und dem unerbittlichen Oberpriester gerät. Zur gleichen Zeit nähern sich unbekannte Schiffe der Küste des Landes. Der Gesandte eines fernen Landes wiegelt die Feinde der Azteken gegen Motecuzoma auf. Mit unbekannten Waffen und riesigen, vierbeinigen Tieren gehen sie gegen die Städte der Azteken vor und nehmen den Herrscher samt Hofstaat gefangen. Während Jadefisch versucht, seine Geliebte zu retten, braut sich neues Unheil zusammen…
Die Autorin weiß, wovon sie schreibt. Sie hat sich intensiv mit der aztekischen Geschichte und Kultur beschäftigt und kennt Mexiko aus erster Hand. Zuletzt ist sie noch kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie dort gewesen – auf den Spuren indigener Bilderhandschriften, die Humboldt aus Mexiko mitgebracht hat. Derzeit bereitet sie eine Ausstellung ebendieser Bilderhandschriften in der Staatsbibliothek Berlin für die Öffentlichkeit vor. Geplante Eröffnung: Frühjahr 2022.

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Jadefischs Blicke flohen seitwärts am Oberpriester vorbei. Da entdeckten sie Eins-Affe. Auch er gehörte dem Tempel an, und er, der als Lehrer immer so ernsthaft gewesen war, zog hinter dem Rücken des Oberpriesters eine flüchtige Grimasse, grotesk vom Fackelschein verzerrt. Jadefischs Mundwinkel zuckten. Der Oberpriester bemerkte den Kampf zwischen Lachen und Ernst im Antlitz des Gottesabbilds. „Tezcatlipocas unzählige Eigenschaften färben auf seine Diener ab”, tadelte er Eins-Affe. „Sternfinder ist auch hier”, sagte er dann unerwartet mild zu Jadefisch. „Du kannst ihn alles fragen.“

In die Pyramide war zu ebener Erde ein Raum mit einer kleinen Hinterkammer eingelassen. Dort fand Jadefisch den Priester-Weisen, beleuchtet von einem Feuergefäß.

„Sternfinder!”

„Ixiptla-tzin!”

„Bin ich jetzt wirklich … Tezcatlipoca?”

„Du bist Sein Abbild, Sein Ixiptla – die Haut, in die Er schlüpft, so oft Er will.“

„Und was ist mit … Jadefisch?“

„Es gibt ihn noch. Aber er sollte sich ruhig verhalten.“

„Und wenn der Gott nicht in mir ist?“

„Lässt du es niemanden merken.“

Jadefisch dachte an den Ixiptla aus Tlaxcallan. Ob sich dieser wohl mit oder ohne Tezcatlipoca dem Tod überantwortet hatte? Er fühlte sich wieder auf jenen Tempel versetzt. Er hörte wieder das Klagen der Menge und ihren Jubel, als er vorgetreten war. Den tosenden, nicht enden wollenden Beifall, und plötzlich verspürte er Wut. Den Azteken war es einerlei, ob Tezcatlipoca ihn beseelte! Ihnen genügte ein Als Ob. Eine Flut von Bildern schlug über Jadefisch zusammen. Da war die kleine, rote Pyramide des Gottes … die Sonne beschien die Stufen, die eine Gestalt emporschritt und dem Volk die zerbrochenen Flöten zuwarf, während sie das Blumenlied des Tezcatlipoca zerfetzte. Sie spielte es so gräulich falsch, dass niemand es je würde vergessen können. Unten stand die Menge, verständnislos schweigend und unbeweglich wie eine Wand. Niemand stritt um die entweihten Überreste einstigen Wohlklangs.

„Was ist dir?“

Jadefisch saß mit zusammengekniffenen Augen und geballten Fäusten da. Der Priester-Weise rüttelte ihn. „Der Gott ist oft sehr weit von uns entfernt. Aber am Tag des Opfers wird Tezcatlipoca dich vollständig erfüllen.“

Der Priester-Weise erinnerte Jadefisch daran, dass es der Gott war, der starb. Jadefisch brauchte keine Angst zu haben. „Das wirst du verstehen, wenn du bei der Statue gewesen bist. Dann erfährst du die göttliche Kraft. Wenn du zurückkommst, gibt man dir Tezcatlipocas Insignien und Seine Kleider. Du wirst mit Seiner Farbe bemalt, die dir die Furcht nimmt, und des Nachts wirst du in Seinem Quell, dem Schwarzen Wasser, baden. Nun geh nach oben in Sein Heiligtum.”

Jadefisch zog sich dorthin zurück. Nur ihm, Tezcatlipocas Priestern und dem Herrscher war es erlaubt, sich in dem Raum mit der Statue aufzuhalten. Sie war ein Meisterwerk der Kunst. In einem Stück war sie aus einem Block von makellosem, schwarzem Obsidian gehauen worden und hatte feurige Augen aus blauen Türkisen. Sie stand auf einem steinernen Altar, so dass der Eintretende zu ihr aufschauen musste. Vor ihr brannte in einer Schale ein ewiges Feuer. Erst nach geraumer Zeit, als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, bemerkte Jadefisch, dass die Figur auch prachtvoll geschmückt und gekleidet war. Goldene Ohrringe und ein kristallener Lippenpflock mit einer zarten blauen Feder darin zierten das Antlitz, Reifen und Schellen die Hände und Füße. Ein fein gewirkter Netzumhang aus weißen und schwarzen Fäden umspielte den Leib und hob dabei den funkenden Türkis des Bauchnabels hervor. Am eindrucksvollsten aber waren die herrlichen Schwanzfedern eines weißen Reihers, die dem Gott im Haarknoten steckten.

Ja, Tezcatlipoca war der Inbegriff männlicher Schönheit. Ihm hierin zu gleichen, war eine der Aufgaben Seines Ixiptla. Scheu betrachtete Jadefisch das glänzende Antlitz. Er erschrak vor den strahlenden Türkisaugen, die die Welt in Brand setzen konnten. Rasch wandte er den Blick von ihnen ab – doch nur, um in der Hand des Gottes den dunklen Spiegel zu entdecken, der in der Mitte durchbohrt war. Darin sah Tezcatlipoca den verborgenen Grund der Dinge; er blickte mit dem Spiegel, wie man sagte, in das Innere von Holz und Stein, Er erkannte alles, was verhüllt war – auch die Menschenherzen. Jede Tat, selbst jeder Gedanke und jeder Zweifel, fing sich in dem Spiegel aus schwarzem Obsidian, und dann brachte Tezcatlipoca alles, das Gute wie das Böse, ans Licht. Er sorgte dafür, dass sich alles manifestierte. Der Gedanke musste weitergesponnen, der Zweifel erhärtet werden. Gutes wie Böses musste gelebt werden, und wenn es böse war, verdarb der Gott den Schuldigen gnadenlos.

Jadefisch begann zu zittern. ‚Oh, dass ich nicht in Seinem Spiegel bin, dass ich nichts denke, fühle, will und frage, was Ihm nicht gefällt.‘ Er sank auf den Steinfußboden. Wenn nun die Statue sich bewegte? Wenn sie den Fuß hob, wenn dabei die goldenen Schellen aneinanderschlugen? Wenn sie den Arm ausstreckte und dabei die Schmucksteine zu klingeln begannen? Schauer jagten Jadefisch über den Rücken. Wie gern wäre er geflohen, aber draußen standen Wächter. ‚Oh, dass ich nichts Unrechtes in mir habe!‘ wünschte er sich. ‚Dass ich niemals wieder einen falschen Ton erzeuge!‘ Die heilige Flamme knisterte, und Tezcatlipoca schwieg. Was sah Er in Seinem Spiegel? Bloß jetzt nichts fragen, nichts fühlen, nichts denken, nichts wollen. Damit nicht irgendetwas in Jadefischs Herzen Seinen Zorn heraufbeschwor. Endlich verfiel er in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem er immer wieder aufschreckte. Er sah sich Körbe und Kisten ausleeren. Mit fahrigen Bewegungen stieß er Gefäße um, in denen sich zu seinem Entsetzen immer noch Dinge befanden. Erst am nächsten Morgen wurde der Träumer von dieser erschöpfenden Arbeit befreit.

Der Priester-Weise Sternfinder und Yaopol, der Oberpriester, führten ihn in den Königspalast. Der Große Sprecher saß auf dem mit einer hohen Rückenlehne versehenen Thron, der zugleich sein Richterstuhl war. Auch er war ein Abbild des Gottes, auch er verkörperte in dieser Welt Tezcatlipoca.

Die Einkleidung eines Ixiptla nahm er seit siebzehn Jahren vor, er musste sich darauf schon lange nicht mehr konzentrieren. Aber diesmal war es anders. Jadefisch war der Sohn seines Widersachers Nachtjaguar. Er gab Motecuzoma das Gefühl, etwas falsch zu machen.

Die Priester nahmen Jadefisch den Umhang ab. Nackt stand er vor dem Großen Sprecher, der ihn, dem Ritual folgend, mit „mein geliebter Gott” anredete. Zum Glück sieht ihn so niemals eine meiner Töchter, musste er denken. Das irritierte ihn noch mehr. Er sollte Jadefisch in Tezcatlipoca verwandeln und wusste plötzlich nicht mehr, wie. Neben dem Thron lagen die Sachen. Motecuzomas Blick fiel auf die lange, kostbar verzierte Schambinde. Er ließ sie sich geben, um den Ixiptla zu bekleiden. Was starrte ihm der Oberpriester dabei auf die Hand? Motecuzoma wurde klar, dass er die Reihenfolge der rituellen Handlungen vertauscht hatte. Er hätte zuerst die Gesichtsbemalung vornehmen müssen, hätte dem Ixiptla die schwarze Farbe des Fastens und der Enthaltsamkeit auftragen müssen. Ein solcher Fehler war ihm noch nie unterlaufen. Scheinbar gelassen machte er sich an das Auftragen der Farbe. Dann folgte die Haartracht. Er kämmte das lange Haar eines Jünglings, der sich noch nicht im Kampf ausgezeichnet hatte, und klebte die mit Harz bestrichenen Adlerdaunen, das Zeichen des späteren Opfers, hinein. Motecuzoma gewann die Sicherheit zurück. Beim Anlegen des Schmuckes halfen ihm die beiden Priester. Nacheinander reichten sie ihm Armbänder und Ketten, die goldenen Ohrgehänge, den weißen, aus einer Meeresschnecke geschnittenen Lippenpflock und zum Schluss den kristallenen Stab mit der Feder, den er dem Abbild durch die Nasenscheidewand zog. Er setzte ihm den Kranz aus weißen Puffmaisblüten aufs Haupt, warf ihm den schwarz-weißen Netzmantel um, band ihm je zwanzig goldene Schellen um die Waden und hüllte seine Füße in Sandalen aus Jaguarfell. Er machte keinen weiteren Fehler mehr in der Reihenfolge. Befriedigt betrachtete er sein Werk. Das Abbild des Gottes sah prachtvoll aus. Es konnte in die Welt entlassen werden. Motecuzoma klatschte in die Hände. Acht junge Männer erschienen – vier Krieger, vier Priester. Sie schworen, dem neuen Abbild zu dienen – auf Schritt und Tritt, bei Tag und Nacht.

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