Jadefisch schwieg. Musste er ausgerechnet dem Großen Sprecher missfallen? Dieser ahndete selbst kleine Fehler unerbittlich. Jadefisch schoss durch den Kopf, was man sich über Motecuzoma erzählte: ‚Sein Leben hat verwirkt, wer seinen Zorn erregt, wer seine Pflicht verletzt, wer ihm nicht ehrerbietig dient, wer seinen Blick zu ihm erhebt.‘ Und Jadefisch hatte nicht nur seine Ohren beleidigt. Anstatt ihn mit dem Gruß des Erdessens zu ehren, stand er noch immer wie erstarrt.
Der Herrscher fixierte ihn. Da wusste Jadefisch plötzlich, was er sich schuldig war. Er hob das Haupt, um dem Unheil zu begegnen. Motecuzomas hagere Gestalt ragte vor ihm auf wie eine Opferfahne. Beinahe hätte er sich noch beirren lassen, als er die blaugrüne Tilma sah: Einzig der Große Sprecher trug einen Umhang in der Farbe des Lebens! Dann das Türkisdiadem mit der Dreiecksspitze! Aber Jadefisch hielt stand. Seine Tage waren ohnehin gezählt. Wie jeder seiner neun Gefährten hier war er nur ein Mensch, der sterben musste, ein Opfersklave, dessen Herz ein Gott erheischte, wenn nicht erst morgen, dann schon heute.
Motecuzoma atmete tief, Zorn blähte ihm die Nasenflügel: Ein Großer Sprecher spiegelte sich in den Pupillen eines andern! Ein Opfersklave, den man auf dem Schlachtfeld gefangen hatte, der Sohn eines Feindes, starrte ihn an! Er hatte Mühe, sich zu beherrschen. Auf keinen Fall durfte er das Gesicht verlieren. Was sollte er tun? Unwillkürlich glitt sein Blick zum Priester-Weisen. Sternfinder war ein Wissender, der die verborgenen Dinge erforschte, ein ernsthaft Suchender, der jede Mühe auf sich nahm. Dafür zuerst und dann natürlich auch für ein entsagungsreiches Leben nach den Tempelregeln hatte ihm Tezcatlipoca einen klaren, beweglichen Geist und ein vollkommenes Herz verliehen; es hieß von ihm, er gliche einer Fackel ohne Rauch. Motecuzoma suchte gerne Rat bei ihm. Schon normalisierte sich sein Atem, nur die Daunenfeder an seinem Nasenschmuck zitterte noch.
Sternfinder ließ die Blicke auf dem Sklaven ruhen.
Auch Motecuzoma sah den Sklaven wieder an, der in einem schlichten Lendenschurz aus Agavefasern barfuß, aber immer noch erhobenen Hauptes vor ihm stand. Wer war er, dass er das wagte? Für einen kurzen, seltsamen Moment durchforschte der Herrscher die Augen seines Gegenübers. Die Iris glich poliertem Bernstein, in den der filigrane Flügel eines Falters eingeschlossen war. Dort war keine Auflehnung zu finden, eher ungläubige Überraschung und … Neugier.
Die Augen allein auf den Sklaven gerichtet, stand der Priester-Weise auf, führte sich zwei Finger an die Lippen, um schließlich, mit derselben Hand, einen Bogen bis zum Kopf des Sklaven zu beschreiben. Motecuzoma verstand. Wer würde es wagen, den Großen Sprecher anzuschauen, wenn nicht jener, den die Gottheit erwählt hatte? Ihn und keinen anderen hatte Tezcatlipoca zu Seinem Abbild bestimmt. Darum deutete Motecuzoma nun seinerseits die Geste des Erdessens an, vor dem Gott, der in dem Opfersklaven leben würde.
Jadefisch glaubte zu träumen. Der Große Sprecher erhöhte ihn? Oder verhöhnte er ihn womöglich? Vergebens bemühte sich Jadefisch, in seinen Augen zu lesen. Die glänzten dunkel wie Obsidian und gaben keine Gefühle preis. Sein Antlitz blieb glatt wie ein Spiegel. Darin eine Raubvogelnase mit einem kristallenen Stäbchen sowie ein schmaler Mund mit goldenem Plättchen an der Unterlippe. An seinem Kinn ein dünner, schwarzer Bart, den nur ein Herrscher tragen durfte.
In diesem Augenblick berührte der Priester-Weise Jadefisch mit dem Agavendorn. In Jadefisch kam Bewegung: Er gab den Gruß des Herrschers zurück. Die Ordnung der Dinge war wiederhergestellt. Motecuzoma besann sich, dass das künftige Abbild des Tezcatlipoca noch der Schüler des Liedmeisters Eins-Affe war.
„Wie heißt du vollständig?“
„Zwölf-Bewegung Jadefisch.“
In seinem Rücken flüsterte es: „Totecuiyo.“
Das hieß ‚Unser Herr‘ und war eine der Anreden der Ehrerbietung, die man dem Herrscher zollte. „Totecuiyo“, wiederholte Jadefisch.
„In welchem Jahr schickten die Götter dich auf die Welt?“
„Im Jahr Fünf Haus, vor 21 Jahren, Totecuiyo.“
„Wohin schickten sie dich?“
„Nach Cholollan.“
„Die Stadt der Grünfederschlange. Wer ist dein Vater?“
„Der verehrte Herr Nachtjaguar.“
„Einer eurer sechs Gebieter. Und deine Mutter?“
„Die verehrte Frau Erdsonne, die Tochter des Hüters-Der-Erde.“
„Eines eurer beiden Hohenpriester. Ist sie die Hauptgemahlin deines Vaters?“
„Sie ist seine Erste Hauptgemahlin.“
„Mögest du dich ihrer beider als Abbild des Tezcatlipoca würdig erweisen!“ Damit drehte Motecuzoma sich um und verließ das Haus der Blasinstrumente.
Jadefisch fühlte sich benommen. Er hob die Flöte auf und wischte sie mit den Händen ab, die Befehle des Liedmeisters erwartend. Aber da kam nichts. Eins-Affe wirkte ein wenig entrückt, er strahlte wie der volle Mond. Der Priester-Weise legte Jadefisch die Hand auf die Schulter:
„Du kennst nun die Macht von Tezcatlipoca. Mache dich leer, damit der Gott in dich eintreten kann. Dann wirst du Ruhm erlangen, mehr Ruhm als deine Brüder, die auf dem Schlachtfeld für die Götter starben. Du wirst Gott selbst sein. Durch dich wird sich unser Herr erneuern.“
In den folgenden Tagen trieb Jadefisch wie ein Boot auf einem aufgewühlten Fluss, umhergeworfen von den Wellen der Gefühle, bald oben auf dem Kamm, in dem Geglitzer des grünen Wassers und des Sonnenlichts, bald unten vor den Mündern schwarzer Strudel, die sich gierig öffneten, wenn über ihm die Gischt zusammenschlug: der Ruhm und sein Preis.
Jadefisch hatte es inzwischen begriffen: Er sollte das neue Abbild sein! Er frohlockte – Ruhm und Ehre, Pracht und Glanz und – fiel dann wie der Ton, den er nicht hatte halten können, aus der Höhe: Tod! Tod hieß das Ende seines Jahres. Das Herz, ausgerissen! Der Kopf, an den Schläfen durchbohrt und auf ein rundes Holz gezogen, gereiht in die Schädelwand vor dem Tempel. Er konnte nur noch daran denken. Scham befiel ihn, denn wenn dies so blieb, dann würde er das Blumenlied nie richtig spielen.
Doch das musste er, er hatte keine Wahl. Ihm war der Tod bestimmt, seitdem er in Gefangenschaft geraten war, diesem Schicksal konnte er sich nicht einmal durch die Flucht entziehen. Jeder Gefangene aus der Adelsschicht gehörte den Göttern. Wohin Jadefisch auch ginge, und wäre es zurück in seine Heimatstadt, würde er sein Leben dennoch auf dem Opferstein verlieren. Warum also hatte er ein Herz, das sich nicht fügte? Warum, bei all der Mühe, die er sich gab, verspielte er sich?
Zum Glück für ihn gab es nicht nur die Flöte. Eins-Affe und der Priester-Weise führten ihn behutsam in die Rolle eines Gottesabbildes ein. Jadefisch übte die Tänze des Tezcatlipoca, er lernte lange Tabakspfeifen zu rauchen, gelbe Blumensträuße in der Luft zu schwenken, und währenddessen malte er sich sein künftiges Leben als Gottesabbild aus. Die aztekische Metropole erwartete ihn! Auf ihrer Insel im Schilf, in den Binsen, im mittleren der flachen Seen des Hochtals von Mexiko mit seinen Wäldern, Feldern und Gärten, erhob sie sich, bewundert und gefürchtet, so weit der Wind die Kunde von ihr trug, und Jadefisch würde sie sehen! Würde nach Lust und Laune die Straßen entlang der Kanäle durchstreifen. Menschen würde er begegnen, die weder Priester noch Wächter waren, die ihrem Tagewerk nachgingen. Mädchen, die sich in den Hüften wiegten, wenn sie, mit bunten Bändern im Haar und den noch leeren Körben auf dem Rücken, früh zum Marktplatz zogen, lachend, taufrisch.
„Du präsentierst dich wie ein Kolibri, der eine Blüte voll Nektar umschwirrt!“, rügte der Priester-Weise. Jadefisch schluckte. Er hatte der keusche Jüngling zu sein. Erst am Ende seines Jahres würde er Liebesfreuden genießen.
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