George Sand
Ein Dialogroman
Aus dem Französischen übersetzt von Elsbeth Ranke
Mit einem Nachwort von Walburga Hülk-Althoff
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildungen: Romaine Brooks, Peter (A Young English Girl), 1923/24 – bpk / Smithsonian American Art Museum / Art Resource, NY
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961974-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011383-7
www.reclam.de
Für Albert Grzymala.
(Erinnerung an einen abwesenden Bruder.)
Ich habe Gabriel in einem Gasthofzimmer in Marseille geschrieben, kurz nach der Rückkehr aus Spanien, während um mich herum meine Kinder spielten. – Der Lärm der Kinder stört nicht. Gerade durch ihr Spiel leben sie in einer fiktiven Welt, in die ihnen der Traum folgen kann, ohne dass die Realität ihm ins Gehege kommt. Auch sie selbst gehören in die Welt des Ideals, so schlicht sind ihre Gedanken.
Gabriel gehört nach Form und Gehalt ganz ins Reich der Phantasie. Nur selten findet sich in der Phantasie der Künstler eine direkte Verbindung zu ihrer realen Situation, und jedenfalls keine Gleichzeitigkeit mit den Sorgen ihres äußerlichen Lebens. Der Künstler muss gerade durch eine Erfindung heraustreten aus der gesetzten Welt, die ihn beunruhigt, bedrückt, ihn langweilt oder bestürzt. Wer das nicht weiß, kann selbst kaum Künstler sein.
George Sand
Nohant, 24. September 1854
FÜRST JULES DE BRAMANTE
GABRIEL DE BRAMANTE, SEIN ENKEL
GRAF ASTOLPHE DE BRAMANTE
ANTONIO
MENRIQUE
SETTIMIA, Astolphes Mutter
FAUSTINA
PÉRINNE, Ausstaffiererin
DER PRÄZEPTOR, Gabriels Hauslehrer
MARC, alter Diener
BRUDER CÔME, Franziskaner, Settimias Beichtvater
BARBE, Settimias alte Gesellschafterin
GIGLIO
EIN KNEIPENWIRT
BANDITEN, STUDENTEN, BÜTTEL, JUNGE MÄNNER und KURTISANEN
Im Schloss von Bramante
DER FÜRST, DER PRÄZEPTOR, MARC
(Der Fürst sitzt im Reisemantel auf einem Sessel. Der Präzeptor steht vor ihm. Marc schenkt ihm Wein ein.)
DER PRÄZEPTOR. Sind Eure Hoheit noch immer so müde?
DER FÜRST. Nein. Dieser alte Wein ist der Freund alten Blutes. Es geht mir deutlich besser.
DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit haben eine lange, mühselige Reise unternommen … Und das in einem Tempo …
DER FÜRST. Sehr mühselig, in der Tat, mit über achtzig. Früher durchquerte ich für eine Kleinigkeit ganz Italien von einem Ende zum anderen, für eine Liebelei, eine Laune; jetzt brauche ich sehr gute Gründe, um in der Sänfte auch nur den halben Weg zurückzulegen, den ich damals zu Pferd bewältigte … Es ist zehn Jahre her, dass ich zum letzten Mal hier war, nicht wahr, Marc?
MARC (sehr unterwürfig). Oh! Jawohl, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Da warst du noch frisch und munter! Und doch bist du auch jetzt erst sechzig. Geradezu ein Jüngling!
MARC. Jawohl, Euer Gnaden.
DER FÜRST (an den Präzeptor gewandt). Und wohl immer noch genauso blöde?
(Laut.)
Jetzt lass uns allein, mein guter Marc, und lass diese Karaffe hier.
MARC. Oh! Jawohl, Euer Gnaden.
(Er zögert, zu gehen.)
DER FÜRST (aufgesetzt gönnerhaft). Geh nur, mein Freund …
MARC. Euer Gnaden … Sollte ich nicht Herrn Gabriel Bescheid geben, dass Eure Hoheit hier sind?
DER FÜRST (mit Nachdruck). Habe ich Ihnen das nicht ausdrücklich verboten?
DER PRÄZEPTOR. Sie wissen doch, Seine Hoheit möchte Herrn Gabriel überraschen.
DER FÜRST. Nur Sie haben mich kommen sehen. Meine Leute sind die Verschwiegenheit selbst. Wenn geredet wird, mache ich Sie verantwortlich.
(Marc zitternd ab.)
DER FÜRST, DER PRÄZEPTOR
DER FÜRST. Auf ihn ist doch Verlass?
DER PRÄZEPTOR. Wie auf mich selbst, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Und … er ist, außer Ihnen und Gabriels Amme, der Einzige, der je erfahren hat …
DER PRÄZEPTOR. Er, die Amme und ich, wir sind neben Eurer Hoheit die einzigen Menschen auf der Welt, die heute von diesem gewichtigen Geheimnis wissen.
DER FÜRST. Gewichtig! Ja, Sie haben Recht; furchtbar, entsetzlich ist dieses Geheimnis, manchmal peinigt es mir gar das Gewissen. Und sagen Sie mir, Pater, ist nie irgendein Wort zu viel …
DER PRÄZEPTOR. Nicht eines, Euer Gnaden.
DER FÜRST. Und bei den Menschen, die täglich mit ihm umgehen, ist nie irgendein Argwohn aufgekommen?
DER PRÄZEPTOR. Nie, Euer Gnaden.
DER FÜRST. So haben Sie mir also in Ihren Briefen keinen Honig um den Bart gestrichen? Alles ist die reine Wahrheit?
DER PRÄZEPTOR. Eure Hoheit stehen kurz davor, sich selbst davon zu überzeugen.
DER FÜRST. Richtig! … Und das macht mich unsäglich ergriffen.
DER PRÄZEPTOR. Euer Vaterherz wird Grund zur Freude haben.
DER FÜRST. Mein Vaterherz! … Pater, überlassen wir solche Worte denen, die sie unbefangen benutzen. Wüssten sie nämlich, durch welche dreiste, ja beinahe wahnwitzige Lüge ich mir die Ruhe und Wertschätzung meiner alten Tage erkaufen musste, so würden sie mir ein schweres Vergehen zur Last legen, das weiß ich! Verwenden wir also nicht wie sie die Sprache einer engherzigen, banalen Zärtlichkeit. Meine Zuneigung zu den Kindern meines Geschlechts war ein ernsteres, ein stärkeres Gefühl.
DER PRÄZEPTOR. Ein Gefühl der Leidenschaft!
DER FÜRST. Lassen Sie das Schmeicheln, man könnte es genauso gut ein Verbrechen nennen; ich kenne den Wert der Worte und messe ihm keinerlei Bedeutung zu. Ich kenne die gemeinen Pflichten, die kindischen Sorgen, die bürgerliche Väter binden, aber darüber stehen die Ehrenpflichten, die verzehrenden Ambitionen des adligen Vaters. Mit dem Mut der Verzweiflung habe ich sie erfüllt. Ich hoffe nur, dass die Zukunft mir nicht das Gedächtnis schwächt und nicht den Stolz meines Namens hinter Verfahrens- oder Gewissensfragen zurücktreten lässt!
DER PRÄZEPTOR. Das Schicksal hat Eure Ziele bislang wunderbar gestützt.
DER FÜRST (nach kurzem Schweigen). Sie schrieben, er sei von schöner Gestalt?
DER PRÄZEPTOR. Bewundernswert! Das lebende Abbild seines Vaters.
DER FÜRST. Ich hoffe, sein Charakter hat mehr Energie!
DER PRÄZEPTOR. Wie ich es Eurer Hoheit wiederholt vermeldet habe, unglaubliche Energie!
DER FÜRST. Sein armer Vater! Er war ein schüchterner Charakter … eine furchtsame Seele. Guter Julien! Wie mühsam konnte ich ihn nur überzeugen, in der Beichte auf dem Totenbett das Geheimnis zu wahren! Bestimmt hat diese Last sein Leben verkürzt …
DER PRÄZEPTOR. Eher doch der Schmerz, den ihm der zu frühe Tod seiner schönen jungen Gattin zufügte …
DER FÜRST. Ich habe Ihnen verboten, mir die Dinge schönzureden; Pater, ich bin ein Mann, der die ganze Wahrheit ertragen kann. Ich weiß, ich habe Herzen bluten lassen, und es werden noch weitere bluten! Nun denn, was geschehen ist, ist geschehen … Er tritt sein siebzehntes Jahr an; er muss von recht hübscher Größe sein?
DER PRÄZEPTOR. Mehr als fünf Fuß, Euer Gnaden, und er wächst weiter und schnell.
DER FÜRST (mit sichtbarer Freude). Wahrhaftig! Es stimmt, das Schicksal steht uns bei! Und das Gesicht, hat es schon männliche Züge? Schon! Ich möchte mich selbst betrügen … Nein, sagen Sie nichts mehr; ich werde ihn ja sehen … Sprechen Sie nur von seiner Moral, von der Erziehung.
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