1 ...8 9 10 12 13 14 ...32 In § 55 AufenthG hat der Gesetzgeber im Wesentlichen Tatbestände übernommen, die bereits nach altem Recht einen (besonderen) Ausweisungsschutz begründet haben. Im Einzelnen gilt Folgendes:
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§ 55 Abs. 2 Nr. 1.Minderjährige Ausländer, die eine Aufenthaltserlaubnis besitzen, genießen Ausweisungsschutz nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG.
Hinweis
Maßgeblich für die Anwendung der Schutzvorschrift ist der Zeitpunkt der Entscheidung, so dass diese nicht eingreift, wenn der betroffene Ausländer nach Erlass der Ausweisungsverfügung – aber vor einer bestandskräftigen Entscheidung – volljährig wird.[55]
69
§ 55 Abs. 2 Nr. 2.Anders als § 55 Abs. 1 Nr. 1–3 sowie Abs. 2 Nr. 3 und 4 AufenthG setzt das Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraus[56]; im Übrigen gelten keine weiteren Besonderheiten.
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§ 55 Abs. 2 Nr. 3.Der Aufenthaltsstatus des betroffenen Ausländers ist gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG ebenfalls unbeachtlich, sofern dieser ein Umgangsrecht bzgl. eines ledigen und minderjährigen Kindes ausübt, welches sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält. Ist das Kind nach ausländischem Recht verheiratet, gilt dieses gleichwohl als „ledig“, sofern die Ehe nach deutschem Recht keine Anerkennung findet.[57] Ist der Aufenthaltsstatus des Kindes ungeklärt, findet § 55 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG keine Anwendung.[58]
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§ 55 Abs. 2 Nr. 4.Halten sich die Eltern eines minderjährigen Kindes rechtmäßig im Bundesgebiet auf, genießt der minderjährige Ausländer gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz unabhängig vom eigenen Aufenthaltsstatus.
Hinweis
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Da der Ausweisungsschutz ohne Rücksicht auf den eigenen ausländerrechtlichen Status gilt, besteht der Schutz selbst im Falle des illegalen Aufenthalts (vgl. 56.2.2.4 Anwendungshinweise zum AufenthG). |
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Da der Ausweisungsschutz keine familiäre Lebensgemeinschaft mit den Eltern oder dem personensorgeberechtigten Elternteil voraussetzt, ist der minderjährige Ausländer auch dann geschützt, wenn er bei einem Dritten oder in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht ist (56.2.2.4 Anwendungshinweise zum AufenthG). |
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§ 55 Abs. 2 Nr. 5.Da minderjährige Ausländer bereits durch andere Tatbestände besonderen Schutz genießen, kommt § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG im Wesentlichen eine Art Auffangfunktion zu, so z.B. für unbegleitete Minderjährige.[59]
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§ 55 Abs. 2 Nr. 6.Die Vorschrift enthält neben dem notwendigen Titel keine weiteren Voraussetzungen.
bb) Das „besonders schwerwiegende“ Bleibeinteresse
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Das Bleibeinteresse des Ausländers wiegt gemäß § 55 Abs. 1 AufenthG „besonders schwer“, wenn der Ausländer
1. |
eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, |
2. |
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt und im Bundesgebiet geboren oder als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist ist und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, |
3. |
eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und mit einem der in den Nrn. 1 und 2 bezeichneten Ausländer in ehelicher oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, |
4. |
mit einem deutschen Familienangehörigen oder Lebenspartner in familiärer oder lebenspartnerschaftlicher Lebensgemeinschaft lebt, sein Personensorgerecht für einen minderjährigen ledigen Deutschen oder mit diesem sein Umgangsrecht ausübt, |
5. |
die Rechtsstellung eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG genießt oder |
6. |
eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 AufenthG, den §§ 24, 25 Abs. 4a Satz 3 AufenthG oder nach § 29 Abs. 2 oder 4 AufenthG besitzt. |
75
§ 55 Abs. 1 Nr. 1.Die Vorschrift setzt neben dem Besitz einer Niederlassungserlaubnis einen rechtmäßigen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren voraus; Fiktionzeiten werden nach Maßgabe des § 55 Abs. 3 AufenthG angerechnet.
76
§ 55 Abs. 1 Nr. 2.Ausländer, die im Bundesgebiet geboren oder als Minderjährige in das Bundesgebiet eingereist sind, genießen gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besonderen Schutz; gefordert ist ein kontinuierlicher Aufenthalt, weshalb die Regelung nicht eingreift, wenn der Minderjährige zwischenzeitlich ausgereist und als Volljähriger in das Bundesgebiet zurückgekehrt ist.[60]
77
§ 55 Abs. 1 Nr. 3.Neben einer Aufenthaltserlaubnis – eine bestimmte Art ist nicht gefordert[61] – verlangt die Vorschrift die Existenz einer tatsächlich geführten familiären oder lebenspartnerschaftlichen Lebensgemeinschaft; ein Verlöbnis genügt nicht.[62]
Hinweis
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung des Ausweisungsschutzes ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung;[63] auf diesen Umstand ist der ausländische Mandant hinzuweisen, sofern er z.B. beabsichtigt (nach der Haftentlassung), eine Ehe bzw. Lebenspartnerschaft mit einer der in § 55 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AufenthG genannten Personen einzugehen.
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§ 55 Abs. 1 Nr. 4.Familiäre Beziehungen zu einem deutschen Staatsangehörigen werden in § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG als besonders schutzbedürftig eingestuft. Zu den Familienangehörigen gehören in erster Linie die Kernfamilie – Eltern, Ehefrau bzw. Ehemann und Kinder -; nach den Umständen des Einzelfalles können aber auch weitere Verwandte – z.B. Großeltern, Enkel oder Schwiegerkinder – erfasst sein, wenn zu diesen eine eng geprägte, familiäre Beziehung besteht.[64] Soweit § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG die Ausübung eines Umgangsrechtes voraussetzt, ist ein familiäres Zusammenleben im Sinne einer häuslichen Gemeinschaft nicht erforderlich.[65]
79
§ 55 Abs. 1 Nr. 5.Der Vorschrift kommt keine Bedeutung zu, da subsidiär schutzberechtigte i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG den erhöhten Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG genießen.[66]
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§ 55 Abs. 1 Nr. 6.Humanitäre Gründe können unter den Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz begründen.
Hinweis
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Da Unionsbürger bzw. Drittausländer mit vergleichbarer Rechtsposition zwischenzeitlich umfassenden Ausweisungsschutz genießen, kommt Art. 3 ENA nach heute geltendem Recht keine praktische Relevanz mehr zu.[67] |
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Freizügigkeitsberechtigte Ausländer genießen besonderen Ausweisungsschutz nach dem FreizügG/EU; unter bestimmten Voraussetzungen gilt dies auch für deren Familienangehörige, wobei es auf die Staatsangehörigkeit des Familienmitgliedes nicht ankommt (vgl. dort Rn. 100 ff.). |
81
Ist ein Ausweisungstatbestand erfüllt oder zu erwarten, dass im Falle der Verurteilung dessen Voraussetzungen vorliegen werden, kommt der erforderlichen Gefahrenprognose die entscheidende Bedeutung zu; grob fehlerhaft wäre jedoch die Annahme, der Verteidiger könne insoweit keinen Einfluss nehmen, „da es sich um eine gebundene Entscheidung handele, die letztlich vom Verwaltungsgericht zu treffen sei“. Die Entscheidung setzt nämlich u.a. eine sorgfältige Sachverhaltsaufklärung voraus; da insoweit zumeist auf die schriftlichen Urteilsgründe des Strafgerichts zurückgegriffen wird, sollte bereits im Strafverfahren die Basis für eine dem ausländischen Mandanten günstige Entscheidung der Ausländerbehörde geschaffen werden. Je milder die Urteilsgründe, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ausweisung unterbleibt (vgl. Rn. 87 ff.).
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