294
Einem Facharzt, dessen adäquate medizinische Qualifikation und persönliche Zuverlässigkeit der Leitende Arzt oder Oberarzt kennt, darf er alle zum Fachgebiet gehörenden Aufgaben zur selbstständigen Erledigung anvertrauen, ohne diese im Einzelnen kontrollieren zu müssen. Der für die Auswahl (Einstellung) und den Einsatz eines Facharztes verantwortliche Chefarzt darf sich allerdings nicht nur auf das Facharztzeugnis verlassen, sondern muss sich im Einzelnen von den individuellen Fähigkeiten und konkreten Erfahrungen seines Mitarbeiters vor dessen erstem Tätigwerden überzeugen.[264]
(4) Der Vertrauensgrundsatz bei der Teamarbeit zwischen Arzt und nichtärztlichem Personal
295
Im Verhältnis zwischen Chefarzt (Arzt) und seinen nichtärztlichen Mitarbeitern gelten im Prinzip dieselben Grundsätze. Typisch für diese Unterform der vertikalen Arbeitsteilungist, „dass sie sich im Bereich der fachlichen Weisungsrechte und Weisungspflichten vollzieht“[265]. Deshalb muss der Arzt, der sich im Rahmen der Krankenbehandlung der Hilfe anderer Personen bedient, gegen „die bei der Arbeitsteilung auftretenden besonderen Gefahrenquellen“[266] – Qualifikationsmängel, Informationslücken, Missverständnisse, Eigenmächtigkeiten– Vorsorge treffen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er „stets auf Sorgfaltsmängel gefasst“ sein müsste, „die buchstäblich überall und nirgends vorkommen können“[267], vielmehr darf er sich, wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen, auf das sorgfaltspflichtgemäße Verhalten seiner Hilfskräfte im Hinblick auf deren eigene unmittelbare „Primärverantwortlichkeit“ verlassen.
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Dies gilt insbesondere für Mitarbeiter, die ihre Kenntnisse und Erfahrungen durch Prüfungszeugnisse nachgewiesen haben oder unter staatlicher Aufsicht stehen. Hier darf der Arzt „im Allgemeinen davon ausgehen, dass andere geprüfte Medizinalpersonen“ (z.B. Pflegekräfte, medizinisch-technische Assistentinnen) „diejenigen Kenntnisse besitzen“, die zum Prüfungsstoff gehören[268], oder in ihrer Berufstätigkeit von staatlichen Stellen überwacht werden wie z.B. die Hebamme[269]. So richtig es ist, dass sich der Arzt nur „zunächst auf Zeugnisse und Prüfungen verlassen“ darf, „sich dann aber selbst ein eigenes Bild von der Sachkunde und Zuverlässigkeit des Mitarbeiters machen muß“[270], so unrichtig wäre jedoch die Forderung nach einer lückenlosen Überwachung, besonders bei gefährlichen Verrichtungen wie etwa der Mithilfe bei einer Narkose, Operation, Röntgenbestrahlung u.a. „Eine derart ausgedehnte Kontrollpflicht würde die Arbeitsteilung faktisch beseitigen“[271] und die Geltung des Vertrauensgrundsatzes aufheben, da dann „auch befähigten und erprobten Hilfskräften niemals ohne einzelne Kontrolle“ mit Gefahr verbundene Tätigkeiten anvertraut werden dürften. Es würde dem Sinn der Arbeitsteilung geradezu zuwiderlaufen, nach der Übertragung einer Aufgabe auf einen bewährten, zuverlässigen Mitarbeiter diesen ununterbrochen zu überwachen[272].
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Die Anforderungen an die sekundären Sorgfaltspflichtendes Arztes dürfen deshalb nicht überspitzt werden, wenn die Arbeitsteilung in der Praxis funktionieren und nicht ad absurdum geführt werden soll. Konkret bedeutet dies: Der Arzt haftet „für die sorgfältige Auswahl des Mitarbeiters, also für die Prüfung seiner fachlichen und persönlichen Qualifikation, für die Erteilung der erforderlichen generellen und speziellen Weisungen und für die ordnungsgemäße Überwachung“[273]. Ist eine Hilfsperson „als für die in Frage kommenden Maßnahmen so geschult, erprobt, erfahren und zuverlässig“ anzusehen, „dass ein von ihr begangener Fehler außerhalb des Rahmens gewöhnlicher Erfahrung und der besonderen Wissensmöglichkeiten des Arztes“ liegt,[274] scheidet dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit aus. Der Arzt genügt seiner Überwachungspflicht, wenn er bei Assistenzpersonen, die sich „in langer Zusammenarbeit als fachlich qualifiziert und zuverlässig erwiesen“ haben, regelmäßig „stichprobenartige Überprüfungen“ vornimmt.[275] Sobald sich aber eindeutige Tendenzen zu „Schludrigkeit“ und zum „Schlendrian“ zeigen[276] oder andere Umstände „das Vertrauen in den ausgebildeten Mitarbeiter“ zu erschüttern geeignet sind, muss der Arzt handeln, das heißt, die Überwachung verstärken, entsprechende Anweisungen und Instruktionen erteilen, evtl. Kompetenzen einschränken, Fortbildungskurse einrichten, etc., um die Mängel zu beseitigen. Insoweit ist der Vertrauensgrundsatz nicht mehr gerechtfertigt und der Bereich der sekundären Sorgfaltspflichten des Arztes entsprechend erweitert. Dies gilt auch für gesonderte Hinweise bei gefährdeten Patienten, z.B. zur Beobachtung eines Infusionssystems[277] oder eines Liegegeschwürs (Dekubitus)[278].
298
In welcher Weise die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes von der Qualifikation, Schulung, Erfahrung und Zuverlässigkeit des nichtärztlichen Personals abhängt, zeigt ein Blick in die Judikatur:
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Da die während des gesamten Geburtsvorgangs anwesende Hebamme die pathologischen Muster des CTG (Kardiotokogramm, Wehenschreiber) mit Spätdecelerationen nicht bemerkte und dadurch zu spät um ärztliche Hilfe rief, erlitt das Kind bei der Geburt infolge mangelnder Sauerstoffversorgung eine Hirnfunktionsstörung, die zu einer schweren Athetose führte. Im Rahmen der umfangreichen Beweisaufnahme ergab sich, dass die Hebamme bei allen Ärzten der Abteilung und ihren Kolleginnen als zuverlässig und qualifiziert galt, von anderen Patientinnen als „gute, erfahrene und beliebte Hebamme“ beschrieben wurde, die über eine mehr als 20-jährige Berufspraxis verfügte, und der Chefarzt in regelmäßigen Besprechungen sowie durch Hinweise im Berufsalltag die am Krankenhaus tätigen Hebammen eingehend über die Beurteilung pathologischer Kurvenverläufe des CTG-Geräts instruiert hatte. Auch die regelmäßigen amtsärztlichen Überprüfungen der Hebamme in fachlicher Hinsicht hatten zu keinerlei Beanstandungen geführt.
Angesichts dieser Umstände durfte der Chefarzt der gynäkologischen Abteilung auf die persönliche Qualifikation und Gewissenhaftigkeit der Hebamme vertrauen. Ein Aufsichts- und Überwachungsverschulden kam nicht in Betracht, so dass er zu Recht von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen wurde.[279]
Allgemein ist zur Abgrenzung der Verantwortlichkeiten von Arzt und Hebamme auf folgende Grundsätze zu verweisen:[280]
1. |
Die Begleitung einer Normalgeburt entspricht im Ausgangspunkt der originären Fachkompetenz einer Hebamme[281]. Erst der Eintritt von Komplikationen, z.B. einer Schulterdystokie oder eines kindlichen Herztonabfalls, erfordert das Eingreifen des Arztes[282]. Die Aufnahmeuntersuchung zur Entbindung im Krankenhaus darf – entgegen der Ansicht des OLG Stuttgart – der Hebamme überlassen bzw. übertragen werden.[283] Von dem Zeitpunkt an, in dem der Arzt in der Klinik die Leitung der Geburt übernimmt, sei es wegen einer Komplikation oder aus anderen Gründen, ist die Hebamme seine Gehilfin[284]. Sie bleibt aber strafrechtlich verantwortlich, wenn sie z.B. die Gefahrenlage für Mutter und Kind anhand des CTG erkannt, hiervon aber den Geburtshelfer nicht unterrichtet hat.[285] |
2. |
Dementsprechend ist die Hebamme bei Normalgeburten befugt, bestimmte diagnostische und therapeutische Maßnahmen vorzunehmen, die im Einzelnen in den jeweiligen Dienstordnungen der Bundesländer niedergelegt sind. |
3. |
Sobald Regelwidrigkeiten und Zeichen eines pathologischen Geburtsverlaufs auftreten, muss die Hebamme den Arzt hinzuziehen, dem – von Ausnahmesituationen abgesehen (Unerreichbarkeit rechtzeitiger Hilfe) – allein die Behandlung regelwidriger Vorgänge bei Schwangeren und Gebärenden vorbehalten ist.[286] Deshalb endet die Kompetenz der Hebamme z.B. beim Auftreten einer Schulterdystokie. |
4. |
Die Hebamme darf sich im Prinzip auf die Anordnungen des Arztes verlassen. Der Arzt, der die Hebamme zu einer spezifisch ärztlichen Verrichtung heranzieht und ihr Weisungen erteilt, ist dafür alleine verantwortlich[287]. Bei erkennbar unsachgemäßen Anweisungen des Arztes muss die Hebamme jedoch entsprechende Vorhalte machen[288]. |
5. |
Die Hebamme hat neben dem Geburtshelfer die – eigene – Rechtspflicht, Atemtätigkeit und Herzfrequenz eines neugeborenen Kindes in den ersten 20 Minuten nach der Geburt ständig zu überwachen.[289] |
6. |
Aus der originären Kompetenz der Hebamme für die Begleitung einer normalen Geburt folgt, dass der aufsichtsführende Arzt im Krankenhaus bei der Entbindung nicht ständig anwesend zu sein hat. Es genügt, dass er für eine stets ordnungsgemäße Durchführung der Geburtshilfe Sorge trägt und im Falle eintretender Komplikationen sofort zur Stelle ist[290]. Mit seinem Erscheinen und namentlich seiner Eingangsuntersuchung wird er der Hebamme gegenüber weisungsbefugt.[291] |
(b) Arzt – Krankenpflegekräfte
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