196
Zur Feststellung, ob eine bloße Zahlungsstockung vorliegt, ist zunächst eine Finanzplanung für einen Dreiwochenzeitraum aufzustellen. Ergibt diese Finanzplanung für das Ende des 3-Wochenzeitraums, dass die anfängliche Liquiditätslücke geschlossen ist, liegt eine bloße Zahlungsstockung und damit keine Zahlungsunfähigkeit vor. Eine Ausdehnung der Finanzplanung ist in diesem Fall nicht erforderlich; künftig zu erwartende Liquiditätslücken wären aus Sicht des Beurteilungszeitpunkts nicht als eingetretene, sondern als drohende Zahlungsunfähigkeit zu qualifizieren.
197
Ergibt sich aus der Finanzplanung für den 3-Wochenzeitraum, dass die anfängliche Lücke nicht geschlossen wird oder sich vergrößert, ist eine Fortschreibung der Finanzplanung erforderlich, um nach den Grundsätzen der Rspr. zu entscheiden, ob eine Zahlungsunfähigkeit im Rechtssinne oder eine nur vorübergehende Zahlungsstockung vorliegt.
198
Nach der Rspr. liegt eine bloße Zahlungsstockung vor, wenn erwartet werden kann, dass eine nach 3 Wochen verbleibende Liquiditätslücke von 10 % oder mehr innerhalb „überschaubarer“ Zeit geschlossen werden kann (vgl. BGH 24.5.2005 – IX ZR 123/04 – DB 2005, 1787). Eine Erstreckung auf einen Zeitraum von mehr als 3 Wochen kann allerdings nur in Betracht kommen, wenn ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke in dieser Zeit vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern gegen ihren Willen ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist (vgl. BGH 19.7.2007 – IX ZB 36/07 – ZIP 2007, 1666).
199
Je geringer die Liquiditätslücke ausfällt, umso eher ist den Gläubigern ein Zuwarten zuzumuten, da in diesen Fällen die Erwartung umso begründeter ist, dass es dem Schuldner gelingen wird, die Liquiditätslücke in absehbarer (bzw. „überschaubarer“) Zeit zu beseitigen (vgl. BGH 24.5.2005 – IX ZR 123/04 – DB 2005, 1787). Der Zeitraum, in dem die Liquiditätslücke plangemäß geschlossen sein muss, kann in Ausnahmefällen bis zu 3, längstens 6 Monate betragen.
200
Ergibt sich aus dem Finanzplan, dass trotz bestehender Liquiditätslücke keine Zahlungsunfähigkeit im Rechtssinne vorliegt, muss sich der Schuldner weiterhin fortlaufend vergewissern, ob die der Planung zugrunde liegenden Annahmen eingetreten sind oder ob sich wegen Nichterreichens der Planungsziele die Ertrags-, Vermögens- und Finanzlage des Unternehmens weiter verschlechtert haben und entsprechende Folgerungen für die Insolvenzantragspflicht zu ziehen sind.
201
Der erforderliche Detaillierungsgrad des Finanzplans (quartals-, monats- oder wochenweise Zahlungen) wird durch die Größe der bestehenden Liquiditätslücke, die Länge des Planungszeitraums sowie die Besonderheiten des Einzelfalls (Branche, Geschäftstätigkeit etc.) bestimmt.
202
Sollte sich aufgrund der Untersuchungen ergeben, dass die Zahlungsunfähigkeit bereits eingetreten ist, verkürzt sich die 3-Wochenfrist zur Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit entsprechend; daraus kann resultieren, dass der Insolvenzantrag unverzüglich zu stellen ist.
1› F› IV. Beurteilung einer Überschuldung (§ 19 InsO)
IV. Beurteilung einer Überschuldung (§ 19 InsO)
203
Bei juristischen Personen und ihnen gleichgestellten Personenhandelsgesellschaften ist auch die Überschuldung Eröffnungsgrund. Überschuldung liegt nach § 19 Abs. 2 InsO vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Sofern eine positive Fortbestehensprognose vorliegt, d.h. die Fortführung des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist und somit keine drohende Zahlungsunfähigkeit gegeben ist, liegt eine Überschuldung nicht vor.
1. Aufbau und Bestandteile der Überschuldungsprüfung
204
Die inhaltliche Ausgestaltung der Überschuldungsprüfung ist im Gesetz lediglich rudimentär geregelt. Zur Erreichung einer nachvollziehbaren Beurteilung ist jedoch ein sachgerechtes, methodisches Vorgehen erforderlich. Im Hinblick auf die Haftungsrisiken für geschäftsführende Organe wird wiederum empfohlen, die angestellten Überlegungen in Form einer Überschuldungsprüfung schriftlich zu dokumentieren.
205
Die Überschuldungsprüfung erfordert in aller Regel ein zweistufiges Vorgehen:
– |
Auf der ersten Stufe sind die Überlebenschancen des Unternehmens in einer Fortbestehensprognose zu beurteilen. Bei einer positiven Fortbestehensprognose liegt keine Überschuldung i.S.d. § 19 Abs. 2 InsO vor. |
– |
Im Falle einer negativen Fortbestehensprognose sind auf der zweiten Stufe Vermögen und Schulden des Unternehmens in einem stichtagsbezogenen Status zu Liquidationswerten gegenüberzustellen. |
206
Im Falle einer negativen Fortbestehensprognose liegt zumindest eine drohende Zahlungsunfähigkeit und damit ein Insolvenzantragsrecht vor. Ist darüber hinaus das sich aus dem Überschuldungsstatus ergebende Reinvermögen negativ, liegt zusätzlich eine Überschuldung vor, die eine Antragspflicht begründet.
207
Ausmaß und Stadium der Unternehmenskrise (z.B. Umsatzrückgänge, Höhe der Verluste in Jahres- oder Zwischenabschlüssen, Liquiditätsprobleme, erhebliche Forderungsausfälle, Wertminderungen bei Warenbeständen oder Wertpapieren) bestimmen Zeitpunkt, Häufigkeit, Fortschreibung und Detaillierungsgrad der Überschuldungsprüfung. Mit zunehmender Unternehmensgefährdung steigen die Anforderungen an die fortlaufende Aktualisierung der Überschuldungsprüfung.
208
Ausnahmen von der beschriebenen Vorgehensweise kommen in Betracht, wenn einfach zu beurteilende Sachverhalte eine Überschuldung ausschließen. Dies kann bspw. der Fall sein, wenn eine rechtlich verbindliche und hinreichend werthaltige Sicherung des Fortbestands des Unternehmens durch das Konzernmutterunternehmen oder den Hauptgesellschafter nachgewiesen wird oder das Vorhandensein stiller Reserven (z.B. bei einem Grundstück) eine Überschuldung ausschließt. In den beiden genannten Fällen sind die Umstände, die eine Überschuldungsprüfung im üblichen Umfang entbehrlich erscheinen lassen, sorgfältig nachzuweisen und zu dokumentieren.
209
Zur Feststellung einer zukünftigen, der Fortführung des Unternehmens entgegenstehenden Liquiditätsgefährdung ist ausgehend von der Stichtagsliquidität im Prüfungszeitpunkt die gesamte finanzielle Entwicklung des Unternehmens für den Planungszeitraum in einer Fortbestehensprognose darzustellen.
210
Die Fortbestehensprognose ist das qualitative, wertende Gesamturteil über die Lebensfähigkeit des Unternehmens in der vorhersehbaren Zukunft. Sie wird auf Grundlage des Unternehmenskonzeptes und der Finanzplanung getroffen.
211
Die Fortbestehensprognose soll eine Aussage dazu ermöglichen, ob vor dem Hintergrund der getroffenen Annahmen und der daraus abgeleiteten Auswirkungen auf die Ertrags- und Liquiditätslage ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, die im Planungshorizont jeweils fälligen Verbindlichkeiten bedienen zu können. Sie ist eine reine Zahlungsfähigkeitsprognose.
a) Maßstab der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
212
Die Formulierung in § 19 Abs. 2 InsO stellt darauf ab, ob der Fortbestand des Unternehmens nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist. Dies ist ein Gesamturteil über den möglichen weiteren wirtschaftlichen Unternehmensverlauf, und zwar insbesondere bezogen auf die Fähigkeit, jederzeit die fälligen Verbindlichkeiten begleichen zu können.
213
Jeder Planung ist immanent, dass die zugrunde gelegten Annahmen aufgrund nicht vorhersehbarer Umstände nicht eintreten oder anders ausfallen können. Mit zunehmender zeitlicher Entfernung der prognostizierten Ereignisse oder Annahmen vom Beurteilungsstichtag steigt der Grad der Unsicherheit und sinkt der Detaillierungsgrad der Annahmen. Naturgemäß ist deshalb auch die insolvenzrechtliche Fortbestehensprognose – in besonderem Maße für das folgende Geschäftsjahr – mit Unsicherheit behaftet. Der Gesetzgeber hat diese Unsicherheit bei der Definition der Insolvenzgründe gesehen und in Kauf genommen. Bei der positiven insolvenzrechtlichen Fortbestehensprognose kommt es deshalb darauf an, dass die Aufrechterhaltung der Zahlungsfähigkeit innerhalb des Prognosezeitraums mit überwiegender Wahrscheinlichkeit begründbar ist.
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