Die Unausdeutbarkeit von Schuldfragen und kausalen Zusammenhängen steht im Beitrag Eva Geulens ebenfalls im Mittelpunkt. Ihre Suche nach Zusammenhängen zwischen der Selbstbiographie und der Dramentrilogie Das goldene Vließ fängt mit der Charakterisierung der Besonderheiten jenes oft gelobten autobiographischen Fragments an, das erst posthum unter dem Titel Selbstbiographie an die Öffentlichkeit gelangte. Durch ihre Auseinandersetzung mit Grillparzers verschleiernd-verschweigender Darstellung familiärer Verhältnisse, die zugleich bizarre Züge aufweist, greift Geulen zwei zentrale Merkmale von Grillparzers Schreiben auf, die auch auf seine Dramatik zutreffen: Einerseits die grotesk-unheimliche Mischung bzw. Überblendung von Tragik, Grauen und Komik, andererseits die Verschleierung vom Agens, was eindeutige Schuldzuschreibungen und Rekonstruktionen eines Kausalnexus erschwert. Ausgehend vom grotesken Bild der hinter ihrem Bett in stehender Todesstarre aufgefundenen Mutter, welches in der Forschung meist übergangen wurde, nimmt Geulen über den ‚Abweg‘ der persönlichen Lektüre, bei der diese Stelle unvergesslich mit der scheintoten Madame Sauerbrot bei Wilhelm Busch verschmilzt, die Leser:innen mit auf die Suche nach möglichen Spuren der in der Selbstbiographie dargestellten Ereignisse in der Vließ -Trilogie, deren Entstehungsprozess vom Tod der Mutter eine Zeitlang unterbrochen wurde. Bei dieser Suche geht es aber nicht um eine biographische Lesart der Tragödie, sondern eher um die Analyse von strukturellen Gemeinsamkeiten. Auf diesem Weg werden die auch in der Dramentrilogie ins Dunkel gehüllten Todesarten und -ursachen (insbesondere der Pelias-Figur) deutlich. Die dadurch erreichte Verkomplizierung der Schuld- und Rachefragen wird nicht nur als Versuch betrachtet, sich deutlich von älteren Vorlagen abzuwenden – nach Geulen könnte die Entdramatisierung der Tode und Todesarten in der Dramentrilogie, die keinen dramatischen Knoten mehr binden können, auch als ‚realistische‘ Wendung des Dramas gesehen werden.
Daran anschließend widmen sich die beiden folgenden Beiträge von Gilles Darras und Fabiola Valeri ganz der Lektüre von Grillparzers Vließ -Trilogie, die in den letzten Jahren immer stärker ins Zentrum des internationalen Forschungsinteresses gerückt ist und wegen der Brisanz ihrer Themen auch auf den deutschsprachigen Bühnen neuerdings häufig zu sehen war. Ihre Aktualität in der Forschung und auf dem Theater unterstreicht die Relevanz von Grillparzers Dramatik für die Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen und Konflikten in der globalisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Gilles Darras unternimmt eine Erörterung der zentralen Hell-Dunkel-Motivik im Goldenen Vließ und bespricht ihre Funktion im Rahmen von Grillparzers symbolischer Dramaturgie. Seine Lektüre des Dramentextes und der szenischen Konfiguration demonstriert die enge Verschränkung von Ästhetik und Psychologie in der „bahnbrechende[n] Bearbeitung des Medea-Mythos“ in der Trilogie mit ihrem Wechselspiel von Licht und Schatten und der Polarität von Tag und Nacht. Bei Grillparzer ist diese konstitutive Polarität seiner These zufolge am nachdrücklichsten in der schillernden Medea-Figur selbst verkörpert, die sich allen essentialistischen Identitätszuschreibungen und jeder hermeneutischen Vereindeutigung entzieht. Als eine radikal transgressive und transkulturelle Figur demontiert sie die Xenophobie und den Manichäismus in der Selbst- und Fremdwahrnehmung der anderen Kolcher sowie der Griechen. Darras unterstreicht die konstitutive Ambivalenz und die kritische Dimension von Grillparzers Medea mit seiner Bezeichnung für sie als aufgeklärte Königin der Nacht, und er rückt sie in die Schwesternschaft einer mehrfachen Nähe zu anderen mythischen Gestalten im modernen deutschsprachigen Drama zwischen Weimarer Klassik und Wiener Moderne, nämlich Goethes Iphigenie, Kleists Penthesilea and Hofmannsthals Elektra. Neue Einsichten bringt auch seine tiefenpsychologische Lektüre der traumatischen Höhlenszene in den Argonauten und die Diskussion ihrer Wiederkehr in den Bildern der Medea.
Konzentriert sich Gilles Darras in seiner präzisen Lektüre auf wichtige leitmotivische Verknüpfungen in der Dramaturgie und Bildersprache der Vließ -Trilogie, so rückt Fabiola Valeri in ihrem diskurskritischen Beitrag die interkulturelle Konfliktkonstellation und die zeitgenössischen Alteritätsdiskurse in den Blick, die in Grillparzers moderner Adaption des Argonauten- und Medea-Mythos ästhetisch verhandelt werden. Sie tut dies aus der Perspektive der interkulturellen Literaturwissenschaft, deren Theoriegeschichte und dynamisch-hybriden Kulturbegriff die Einleitung zu ihrem Aufsatz knapp referiert. Das Kulturkontakt-Szenario in Grillparzers Trilogie betrachtet sie parallel zu anderen neueren Deutungen unter dem Vorzeichen der scheiternden Interkulturalität, sieht darin aber keinen geschichtsphilosophischen Pessimismus oder eine resignative Kulturkritik ihres Verfassers am Werk, sondern ein innerdramatisches Versagen auf der Figurenebene, das Grillparzer in seiner Trilogie mit dramaturgischen Mitteln kritisch exponiert und transzendiert. Das Augenmerk in ihrem ersten Analyseschritt liegt auf den kulturell geprägten Mustern der Selbst- und Fremdwahrnehmung auf Seiten von Grillparzers Figuren, die in ihren essentialistischen und ethnozentrischen Denk- und Wahrnehmungsmustern geläufige zeitgenössische Diskursmuster um 1800 von eigen versus fremd repräsentieren und reproduzieren. Es ist ein heterogener Mix aus diskursiven Versatzstücken der Winckelmannschen Ethno-Ästhetik, von kolonialen Topoi der Reiseliteratur und geschichtsphilosophischen Theoremen, deren sich die Dramenfiguren hier bei Grillparzer bedienen, um das jeweils Andere bzw. die Anderen zu stigmatisieren und die eigene kulturelle Überlegenheit zu behaupten. In ihrem zweiten Analyseschritt demonstriert Valeri, wie Grillparzers Trilogie die ethnozentrische Perspektive seiner Figuren auf vielfache Weise destabilisiert und dekonstruiert, nicht zuletzt durch die zahlreichen transkulturellen Parallelen und die Transgressionsfiguren auf beiden Seiten. Was im Umfeld des erstarkenden Nationalismus in der post-napoleonischen Ära fast wie eine literarische Antizipation der plakativen politikwissenschaftlichen These vom „Kampf der Kulturen“ im Sinn von Samuel P. Huntington erscheinen könnte, ist de facto die hellsichtig vorwegnehmende Kritik eines solchen antagonistischen Denkens in der markanten dramatischen Auseinandersetzung mit Alteritätsdiskursen um 1800.
Antonio Roselli erörtert in seinem Aufsatz zentrale Aspekte von Grillparzers Ästhetik im Kontext des Frührealismus, den er mit Ulrich Fülleborn und Monika Ritzer als eine von Grillparzer und wichtigen Vormärz-Autoren wie Grabbe, Büchner und Heine geteilte „gemeinsame Problemlage“ beschreibt, was das krisenhafte Verhältnis zur Wirklichkeit anbelangt. Der Begriff verzeichnet die stilistische Pluralität ihrer Literatur als Pendant dieses Krisenbewusstseins angesichts der Unverfügbarkeit der Wirklichkeit, nicht als ästhetischen Mangel, und er vermeidet die geläufigen Schwierigkeiten in der Zuordnung von Grillparzers Werk im Rahmen geschlossener Epochenkategorien. Entstehungsphasen, Veröffentlichungs- und Aufführungsdaten fallen bei Grillparzer häufig weit auseinander, wie Roselli in seiner Einleitung am Beispiel von Libussa erinnert. Er erläutert die an den Veränderungen der Zeitsemantik orientierte historische Typologie der Wirklichkeitsbegriffe bei Hans Blumenberg, dessen vierter von vier Wirklichkeitsbegriffen ebenfalls auf die schiere Faktizität (das „factum brutum“) einer unverfügbaren Realität zielt, und mit Bezug auf Fülleborn, der sie mit Blick auf die Zeitgestaltung in Grillparzers Dramen beschrieben hat. Unverfügbar wird im Zuge des äußeren Begründungsdefizits und der gesteigerten Kontingenzerfahrung nach 1800 auch das Subjekt für sich selbst, wie Roselli im folgenden Abschnitt seines Beitrags expliziert, der zur Beschreibung dieser Tatsache auf den Begriff der negativen Anthropologie und der postidealistischen Subjektivität rekurriert. Seine weiteren Ausführungen gelten den ästhetischen Implikationen zu diesem Krisenbefund in Grillparzers unsystematischer und antisystematischer Ästhetik und seiner Kritik des Systemdenkens generell sowie der Problematik der Ordnungsvorstellungen in seinem Œuvre. Er zeigt, was die ästhetische Evidenzerfahrung bei Grillparzer ausmacht, und illuminiert das zentrale Bild von der „Körperlichkeit der Poesie“ und den sprachlich geschaffenen Erfahrungsraum, den dieses Bild eröffnet.
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