Ich glaube, dass dieses Phänomen – nennen Sie es Abwehrhaltung oder was auch immer – Milliardenwerte blockiert, die weltweit durch den Einkauf generiert werden könnten. Ich bezeichne das als »schlechte« Best Practice, die erstaunlich weit verbreitet ist. Sie macht sich bemerkbar, wenn der Einkauf zu der Fehlannahme gelangt, er hätte bereits »die beste Methode eingeführt«. Dieses Drama spielt sich vor allem im Rahmen des Strategic Sourcing ab. Ich kenne Einkaufsleiter, die von einem der namhaften Beratungsunternehmen eine »Siebenstufige Beschaffungsmethodik« präsentiert bekamen. Solche Herangehensweisen können durchaus sinnvoll sein (und sich wie ein Ei dem anderen gleichen, nebenbei bemerkt), solange sie richtig umgesetzt werden. Wer ein Kochbuch zur Hand hat, ist noch lange kein guter Koch.
Es gibt andere, oft sehr große Organisationen, einschließlich einige der größeren Automobil-Erstausrüster, für die der Beschaffungsvorgang nichts weiter als ein Prozess geworden ist – hochgradig institutionalisiert, aber auf eine Pflichtübung reduziert, die es abzuhaken gilt. In manchen Unternehmen folgen Beschaffungsteams mit religiöser Inbrunst, aber ohne nachzudenken einem rigorosen Sourcing-Prozess. Es gibt eine Baseline, sie haben Beschaffungsmarktstudien durchgeführt, Stakeholder-Profile angelegt und eine Beschaffungsstrategie entwickelt. Doch die Ausgangswerte sind unvollständig und die Gesamtausgaben unklar. Die Beschaffungsmarktstudie ist interessant, aber sie enthält keine Informationen, die für die Beschaffungsstrategie relevant wären. Die Stakeholder-Profile sind seit einem Vierteljahr in einer Datei gespeichert, die keiner anschaut; und die Beschaffungsstrategie besteht darin, die Bestellvolumina zu bündeln und die Lieferanten damit in die Knie zu zwingen.
Schlechte Best Practice ist eine Katastrophe, denn sie verhindert, dass echte Best Practice Fuß fasst. Und sie ist ein auffallend weit verbreitetes Phänomen. Viele Unternehmen sind aufrichtig überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. In anderen Fällen werden die Pseudo-Erfolgsmodelle als Verteidigungsmechanismus gegen externe Berater oder andere vermeintliche Bedrohungen ins Feld geführt. Doch immer stellen sie eine »Wertblockade« dar.
Und wie geht es nun weiter? Wir haben festgestellt, dass sich hier möglicherweise eine riesige Chance bietet, haben erklärt, wie sie entstanden ist, und haben darauf hingewiesen, dass es eine allgemein akzeptierte Definition des Begriffs Best Practice im Einkauf gibt, jedoch nur wenige diesen Goldstandard erreichen.
Der Rest des Buches befasst sich mit den Antworten auf die Fragen: »Wie gelangen wir auch dort hin?«, »Wie maximieren wir das Gewinnpotenzial des Einkaufs?« und »Welche grundlegenden Bausteine bilden das Fundament des Erfolgs?«.
Sie fragen sich vielleicht: Was soll daran neu sein? Einkauf? Beschaffungsaktivitäten? Die gibt es schon seit Jahrzehnten. Warum dieses Buch, und warum jetzt?
Die Antwort ist, dass dieses Buch zum einen während der COVID-19-Pandemie geschrieben wurde, doch Inhalt und Botschaften reichen weit darüber hinaus, auch wenn sie nur die kollektiven »Erfahrungen« von drei Einkaufsprofis repräsentieren. Zum anderen hat COVID-19 den Einkauf zweifellos ins Rampenlicht gerückt. Während wir beobachten konnten, wie die Lieferketten rund um den Globus knirschend zum Stillstand kamen, ließen sich diejenigen, die gut vorbereitet waren und über eine wohlgeordnete Supply Chain verfügten, leicht ausmachen … genau wie die vielen anderen, die von der Krise komplett überrumpelt wurden.
Aus der Perspektive des Einkaufs hat COVID-19 teilweise einige der wichtigsten Lieferkettenkonzepte in Frage gestellt, die von den Unternehmen während der letzten vier Jahrzehnte mühevoll umgesetzt wurden: JIT (Just-in-Time-Delivery, die bedarfssynchrone Produktion), Single Sourcing (die gezielte Beschränkung auf einen einzigen Lieferanten) oder Best Cost Country Sourcing (die weltweite Nutzung der optimalen Beschaffungsregion für bestimmte Warengruppen). Solche Konzepte treiben die Kosten aus den Lieferketten, doch im Gegenzug erhöhen sie das Risiko. Eine globale Disruption wie COVID-19 wird sich vermutlich als Bewährungsprobe für alle entpuppen, die ihre Lieferketten bis an die Grenzen verengt haben.
Die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, dass der Einkauf das Herzstück des Unternehmens bildet, die Schnittstelle zwischen dem Unternehmen und seinen Lieferanten und Serviceanbietern – und da Unternehmen immer mehr Aufgabenbereiche auslagern, wachsen die Anzahl und Größenordnung der Dienstleistungsanbieter. COVID-19 hat Fragen aufgeworfen, beispielsweise »Haben wir genug Kontrolle über die Beziehungen zu unseren Schlüssellieferanten und unsere Verträge?«, »Haben wir notfalls Lieferanten, die ihre Produktion für uns schnellstmöglich hochfahren können?« und »Haben wir einen starken Logistikpartner?«.
Es herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass es weitere globale Pandemien geben wird, deshalb sollten wir sichergehen, dass wir unsere Lektionen aus der gegenwärtigen gelernt haben. Warum nutzen wir nicht die Post-Corona-Ära, um die Kostenbasis unserer Einkaufsabteilungen noch einmal unter die Lupe zu nehmen? Es ist für alle an der Zeit, sich einen Überblick über die eigenen Kosten zu verschaffen, warum verbinden wir damit nicht eine Analyse der Lieferketten-Resilienz angesichts einer globalen Krise?
Es ist ein guter Zeitpunkt, um den Einkauf in den Blick zu nehmen und zu überlegen: »Wie weit sind wir wirklich gekommen?«, »Wie groß sind die Chancen, wo liegen sie und wie machen wir sie uns zunutze?«. Diese Fragen möchten wir in diesem Buch beantworten.
Zwar hat die Pandemie teilweise den Anstoß für dieses Buch gegeben, aber am Ende des Tages sind die darin enthaltenen Botschaften nicht »COVID-spezifisch«. Die Krise hat wie ein Brennglas gewirkt und nur in aller Deutlichkeit zum Vorschein gebracht, was bereits vorhanden war. Es handelt sich also nicht um ein Buch, das auf die COVID-Ära zugeschnitten ist, und deshalb wird sie auch nicht weiter erwähnt.
Das Buch ist kein Lehrbuch im klassischen Sinn. Es enthält die Anschauungen von drei Einkaufsberatern, die sich im Verlauf mehrerer Jahrzehnte aus ihren unmittelbaren und prägendsten Erfahrungen herauskristallisiert haben. Doch die hier präsentierten Ansichten und Ideen stellen keine unumstößlichen Fakten dar. Vielleicht arbeiten Sie in einem Weltklasse-Unternehmen, auf das keine der Aussagen zutrifft. In diesem Buch geht es um typische Situationen, gestützt auf die gesammelten Erkenntnisse, die wir während unserer beruflichen Laufbahn gewonnen haben, und die eher für die »unteren 80 %« als die »oberen 20 %« von Bedeutung sein könnten.
Die zentrale These des Buchs lautet, dass der Einkauf ein viel zu selten genutzter Gewinnhebel ist und, um sein Potenzial voll auszuschöpfen, bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Die Einkaufsfunktion sollte unter anderem zweckdienlich aufgestellt sein, funktionsübergreifend arbeiten und dem Unternehmen zuverlässige Vorteile verschaffen. Von diesem Punkt ausgehend, erkunden wir jede einzelne dieser Komponenten und die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung.
Das Buch zielt auf die gesamte Vorstandsebene ab und ist nicht nur für Einkaufsleiter, sondern auch für CEOs, COOs und CIOs relevant. Warum? Weil a) alle davon profitieren und b) der CPO die restliche Führungsmannschaft braucht, um die anvisierten Ziele zu erreichen. Außerdem möchten wir mit diesem Buch auch Private Equity Operating Partner (und andere) ansprechen, die nach Möglichkeiten Ausschau halten, ihren Einkauf als Hebel für EBITDA-Verbesserungen einzusetzen. Deshalb wurde das Buch aus einer funktionsübergreifenden Executive-Perspektive verfasst. Wir hoffen, dass es für die Vorstandsetage interessant ist und vor allem CEOs und CFOs auf die Chancen aufmerksam macht, die der Einkauf bietet.
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