Das Gefühl Hildegards, nicht gut genug zu sein, wollte einfach nicht vergehen. Der Kriegsschauplatz Hildegard verbarg hinter all der Dunkelheit ein großes Licht, welches sie sich mühsam wiedererwarb. Jeder noch so kleine Schritt brachte sie diesem Licht näher. Der Strahl des Urvertrauens, der göttlichen Anbindung, holte sie durch unmessbarem Geröll ins Licht. Er zog sie durch diese schweren Massen hindurch direkt ins Licht. Ihre Aufgabe zeigte sich nicht nur in der Führung ihres Klosters, sondern auch in der Führung ihrer Ahnen. Ein Ahnenfeld von sieben Generationen baute sich vor ihr auf. Und wieder war sie in der göttlichen „Pflicht“, hier Licht einfließen zu lassen. Energien von Tobsucht, kriegerischen Auseinandersetzungen, Hass, Missgunst, Folter und Unversöhnlichkeit ließen sie erahnen, welche Leistung sie zu erbringen hatte. Alles wartet auf Liebe, eine Liebe tiefer Vergebung und Versöhnung. Schubweise ließ sie diese in ihre Ahnen fließen, sodass alte Wunden heilen und Familien zusammengeführt werden konnten, die durch jahrhundertealte Fehden zerrüttet worden waren. Es war ein Akt größter Liebe und Anstrengung. Hier zeigte sich ihre große Seele mit unerschütterlichem Herzen für die göttliche Liebe. Hildegard wies genau diese Eigenschaft auf. All der unerlöste Schmerz ihrer Ahnen nagte auch an ihr und ließ sie für ihre Schwestern auch mal hart oder unnahbar erscheinen. Aber dieser Schein zeigte nur einen Aspekt. Die Liebe in ihrem Herzen versiegte nicht. Die Erfüllung ihrer Aufgabe verzehrte sie phasenweise, dennoch fand sie immer wieder zur Kraft zurück. Die Härte in ihr bereitete ihr Kummer und Selbstzweifel, die sie im Tanz mit den Seelenkräften aber wieder ablegen konnte. Der Mensch in ihr brachte alle Facetten zum Vorschein, die göttliche Liebe in ihr ließ sie wachsen und eine innere Zufriedenheit ans Tageslicht bringen.
Sie gewann an Selbstvertrauen durch ihr Urvertrauen, sie gewann an Selbstglaube durch ihren tiefen Glauben. Sie gewann an Gleichgewicht durch ihre Erfahrungen und ihrem inneren Verständnis über ein gesundes Maß. Sie blühte auf, das konnte auch ihr schwarzes Gewand nicht verstecken. Ihre Liebe durchbrach dieses Gewand, ihr Licht berührte die Menschen und füllte somit ihr Kloster. Ein Diamant erleuchtete sich und seine Umgebung in ein Lichtkleid der Heilung. Es gab kein Zurück mehr, all das Klagen hörte auf. Die Wände der heilenden Ur-Kirche, der Seelenakademie, bauten sich lichtvoll auf. Ein Engel auf Erden erstrahlte in vollem Glanz. Es gab nur noch ein Miteinander. Himmel und Erde vereinten sich in ihr. Sie erkannte, wenn auch zaghaft, ihr göttliches Ich-bin in ihr, ihre Ur-Kraft, die Ur-Frau in ihr bäumte sich auf. Das heilende Weibliche umgab sie und so gelang es ihr, all die Hürden zu überwinden und eine Persönlichkeit zu entwickeln, die ihres gleichen sucht. Sie lebte sich selbst, ihre Aufgabe, ihre Liebe, ihren Glauben, ihre Kraft als Heilerin.
In allen Werken der Hildegard von Bingen spiegelt sich ihre göttliche Liebe wider, der Glaube an Heilung, Gottes Wertschätzung dem Menschen gegenüber und das einzigartige Heilpotential. Eine ganzheitliche Heilkunde übergibt sie uns, die an Aktualität nicht verliert. Die Sprache mag ungewöhnlich erscheinen, aber das steht ihr nach fast 900 Jahren auch zu. Sie komplett zu entschlüsseln, stellt sich auch als Herausforderung dar, das Lesen und Erkennen zwischen den Zeilen ist notwendig. Dieses Geschenk Gottes, das Hildegard weitergeben darf, ist für alle Zeiten auf Papier gebracht. Alle Ebenen wurden einbezogen. Hildegard wusste um die heilenden Energien, die sich durch jedes einzelne Werk ziehen, aber nicht explizit als Wort zu lesen sind. Man kann sie spüren. All die Werke sind mit den Energiegesetzen durchflochten, den Gesetzen des Lebens. Hildegard wusste um diesen Schatz, der Offenbarung des Lebens durch Gott.
Hildegard schaute die Tugenden, die Seelenkräfte als eine Art Leiter in der Seelenakademie „Ur-Kirche“. Jede einzelne stellte sich ihr vor und gab ihr die Antworten zur Heilung mit. Aus Sicht der Dualität von hell und dunkel (jeder Kraft ist eine Gegenkraft zugeordnet) erweisen sich die Tugenden als die lichtvolle Seite. Die sogenannten Laster, die krankmachenden Lebensmuster (die Gegenkräfte), offenbarten sich Hildegard ebenfalls. So schrieb sie auf, wie diese Muster unser Leben, unsere Gesundheit negativ beeinflussen. Gott schenkt uns diese. Hierdurch dürfen wir erfahren, wie es sich anfühlt, entfernt von Licht und Liebe (Kälte und Dunkelheit) zu leben. Und dennoch ist Sein Licht immer in uns. Durch unseren Verstand und unser Ego gibt Gott uns „Instrumente“, um Laster anzunehmen, sie zu spüren und mit ihnen zu leben. Geraten wir in ein Ungleichgewicht, sodass die Laster (Hass, Neid, Wut) an Stärke gewinnen, geben der Verstand, unsere Sinne, unser Körper Signale zur „Umkehr“. Hier entscheiden wir, in welche Richtung es geht. Das Geschenk von Leben in all seinen Facetten gibt sich uns hin. Die Seelenakademie ist als eine Lichtform zu verstehen, die altes Heilwissen in sich trägt und durch deren Berührung unser innerer Arzt aktiviert wird. Die Ur-Kirche als Seelenakademie präsentiert sich als große Heilerin und Lehrerin, ein Ort, an dem Erlösung geschenkt wird, Wissen vermittelt wird, die Seelen auf ihre Reisen vorbereitet werden. Sie ist Trägerin der Seelenkräfte und Arbeitsstätte geistiger Lehrer. Jeglicher Schmerz ist hier zur Transformation willkommen. Schicht für Schicht wird reingewaschen. Unser gesamtes Körpersystem und unsere Energiefelder dürfen sich reinigen. Die Auswirkungen dieser Reinigung lassen uns tiefste Liebe, Vertrauen, Glauben, Barmherzigkeit in unseren Herzen wiedererfahren. Ein Ort der bedingungslosen Liebe für jeden einzelnen offenbart sich.
Über die Leiter der Seelenkräfte (Stufe für Stufe) gelangen wir schrittweise in die Freiheit zurück. Krankmachende Lebensmuster lösen sich auf. Dafür ist Mut gefragt, Einsicht und Vertrauen. Es ist eine Freiheit, die uns die Leichtigkeit des Daseins schenkt. Unser Lichtkleid (unsere Aura) erhält eine Stabilität (Schutz), die uns niedere äußere Umstände abprallen lässt. Der Weg in diese Stabilität ist mit vielen Prüfungen gespickt, aber begehbar. Die Seelenkräfte warten nur darauf, ihn mit uns gemeinsam zu gehen. Keine der Seelenkräfte stellt eine Wertung dar, sie sind reine göttliche Liebe und tief im Seelennetz verknüpft. Hildegard bezeichnet die Tugenden als starke „Arbeitskräfte“ Gottes. Sie begegnen uns mit tiefer Wertschätzung und Kommunikation auf Augenhöhe. Wie Engel geben sie uns Impulse, ohne sich dabei auf ein Podest zu stellen. Sie sehen all das Göttliche in uns, aber auch unser Hadern als Mensch. Nichts macht sie glücklicher, als uns mit ihrer heilenden Liebe zu dienen und somit Gottes Liebe in eine noch größere Ausstrahlung zu bringen.
Hildegard beschreibt in ihrem Werk „Scivias“ unter anderem sieben Tugenden als sieben Gaben des Heiligen Geistes. Hildegard sieht diese Tugenden als einen Turm von 4 Ellen Breite und 7 Ellen Höhe. Die Breite bilden die vier Elemente, die Höhe die sieben Gaben. Sie sieht die Vervollkommnung des Menschen durch die Tugenden, die Seelenkräfte. Eine starke Säule sollen sie sein in unserem Leben. Genau diese sieben Tugenden (von insgesamt 35) sind auf den nächsten Seiten beschrieben. Sie in unser Leben zu integrieren, erleichtert den Weg der Heilung und des inneren Wachsens und Wandels. Jede negative Konditionierung, jedes krankmachende Denk- und Verhaltensmuster wartet auf Auflösung, auf Umwandlung. Es ist eine Arbeit mit dem eigenen Innersten (unseren Schattenseiten), und hier warten schon die Seelenkräfte und Geistführer, um uns an die Hand zu nehmen. Charaktereigenschaften bauen sich oftmals wie eine Mauer auf und versperren den Weg. Muster vergangener Generationen gelangen immer intensiver ins Bewusstsein und das Gefühl von Fremdbestimmung zeigt sich uns. Der Weg ins eigene Ich, in unseren Ursprung, wartet darauf, betreten zu werden. Und hier bringt uns die eine oder andere Hürde ins Schleudern. Die Seelenkräfte dürfen aus ihrer Verbannung in uns befreit werden. Ihre Energien warten darauf, endlich wieder heilend auf uns einzuwirken. Geben wir ihnen die Möglichkeit dazu!
Читать дальше