Ein anderer störender Zug an Mary Ann war ihr nicht zu bändigender Hang, ins Kinderzimmer zu laufen und mit ihren kleinen Schwestern und dem Kindermädchen zu spielen. Das war ganz normal, aber da es gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter geschah, verbot ich es ihr natürlich und tat mein Möglichstes, sie bei mir zu halten. Aber das erhöhte nur ihre Freude am Besuch des Kinderzimmers, und je mehr ich mich bemühte, sie von dort fernzuhalten, umso öfter ging sie hin, umso länger blieb sie: zum großen Missfallen von Mrs. Bloomfield, die, wie ich wohl wusste, mir die Hauptschuld daran anlasten würde. Eine weitere Plage war das morgendliche Ankleiden: Einmal wollte sie sich nicht waschen lassen, ein andermal nicht anziehen, wenn sie nicht ein ganz bestimmtes Kleid tragen durfte, von dem ich aber wusste, dass ihre Mutter nicht wollte, dass ich es ihr gab; ein drittes Mal schrie sie und lief weg, wenn ich versuchte, ihre Haare auch nur anzurühren. Wenn ich es schließlich mit viel Mühe und Anstrengung geschafft hatte, sie hinunterzubringen, war das Frühstück oft schon halb vorüber, und finstere Blicke von »Mama« und gereizte Bemerkungen von »Papa« in meine Richtung, wenn nicht direkt an mich gerichtet, waren gewiss mein Lohn; denn nur wenig ärgerte Letzteren so sehr wie der Mangel an Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten. Zu den kleineren Ärgernissen zählte schließlich mein Unvermögen, Mrs. Bloomfield hinsichtlich der Kleidung ihrer Tochter zufriedenzustellen; und das Haar des Kindes »konnte man einfach nicht ansehen«. Manchmal, und darin lag ein ausdrücklicher Vorwurf gegen mich, übernahm sie höchstpersönlich das Amt der Ankleidefrau, wobei sie sich bitterlich über die Mühe beklagte, die sie das kostete.
Als die kleine Fanny mit ins Schulzimmer kam, hoffte ich, dass wenigstens sie lieb und harmlos wäre, aber ein paar Tage, ja, ein paar Stunden genügten, um meine Illusion zu zerstören: Ich merkte, dass sie ein boshaftes, unlenksames kleines Geschöpf war, das bereits in diesem zarten Alter mit Lüge und Betrug vertraut und darauf versessen war, ihre beiden Lieblingswaffen Angriff und Verteidigung einzusetzen, nämlich denjenigen ins Gesicht zu spucken, die sich ihren Unwillen zuzogen, und wie ein Stier zu brüllen, wenn ihre unsinnigen Wünsche nicht erfüllt wurden. Da sie sich normalerweise in Gegenwart ihrer Eltern ganz ruhig verhielt und diese den Eindruck hatten, sie wäre ein ausgesprochen braves Kind, glaubten sie ihrer Scheinheiligkeit bereitwillig, und ihr lautes Gebrüll weckte in ihnen den Verdacht, dass ich sie grob und ungerecht behandelte. Wenn dann schließlich selbst die Eltern in ihrer Voreingenommenheit auf den schlechten Charakter des Kindes aufmerksam wurden, spürte ich, dass sie alles mir zuschrieben.
»Was für ein ungezogenes Mädchen Fanny wird!«, pflegte Mrs. Bloomfield dann zu ihrem Gatten zu sagen. »Sehen Sie nicht, mein Lieber, wie sie sich verändert hat, seit sie das Schulzimmer besucht? Sie wird demnächst genauso schlimm sein wie die beiden anderen, und ich muss leider feststellen, dass sie in letzter Zeit noch ärger geworden sind.«
»Das kann man wohl sagen«, war die Antwort. »Dasselbe habe ich auch schon gedacht. Ich habe geglaubt, wenn wir eine Erzieherin für sie einstellen, würden sie sich bessern; stattdessen wird es immer schlimmer mit ihnen. Ich weiß nicht, wie es mit dem Lernen steht, ihr Verhalten hat sich jedenfalls in keiner Weise gebessert: Sie werden jeden Tag garstiger, schmutziger und ungehöriger.«
Es war mir klar, dass dies alles auf mich gemünzt war, und diese und ähnliche Anspielungen berührten mich weit stärker, als es offene Anschuldigungen getan hätten; denn Letztere hätten mich dazu angestachelt, mich zu verteidigen. So aber hielt ich es für am klügsten, jedes ärgerliche Aufbegehren, jeden Rückzug aus Empfindlichkeit zu vermeiden und beharrlich damit fortzufahren, mein Bestes zu geben. Denn so schwer meine Stellung auch war, ich wollte sie doch auf keinen Fall verlieren. Wenn ich nur mit unerschütterlicher Festigkeit und Rechtschaffenheit weiterkämpfte, so glaubte ich, würden die Kinder mit der Zeit etwas menschlicher. Jeder Monat würde dazu beitragen, sie ein bisschen klüger und folglich fügsamer zu machen; denn ein Kind, das noch mit neun oder zehn Jahren so wild und unbeherrscht wäre wie diese hier mit sechs oder sieben, wäre ganz einfach wahnsinnig.
Ich gefiel mir in dem Gedanken, dass es meinen Eltern und meiner Schwester zugutekam, wenn ich hier Ausdauer bewies, denn wenn mein Lohn auch gering war, so verdiente ich doch immerhin etwas und würde es mit äußerster Sparsamkeit leicht einrichten können, eine kleine Summe für sie zurückzulegen, falls sie mir die Gunst erwiesen, es anzunehmen. Es war schließlich mein eigener Wille, dass ich die Stellung angenommen hatte; ich selbst hatte all diese Misslichkeiten herbeigeführt, und ich war entschlossen, sie zu ertragen, ja, mehr als das, ich bereute noch nicht einmal den Schritt, den ich unternommen hatte. Jetzt sehnte ich mich erst recht danach, meiner Familie zu beweisen, dass ich tüchtig genug war, die Aufgabe zu meistern und sie bis zum Ende redlich zu erfüllen. Und wann immer ich es als erniedrigend empfand, mich stillschweigend zu fügen, oder unerträglich, mich ständig abzuplagen, richtete ich meine Gedanken auf die Heimat und sprach in meinem Innern:
»Sie können mich unterdrücken, doch sie werden mich nicht besiegen!
Ihr seid’s, an die ich denke, nicht an sie.«
Über Weihnachten durfte ich nach Hause, aber mein Urlaub dauerte nur zwei Wochen. »Denn«, sprach Mrs. Bloomfield, »ich dachte, weil Sie Ihre Lieben erst noch vor so kurzer Zeit gesehen haben, würden Sie gar keinen Wert darauf legen, länger zu bleiben.« Ich überließ es ihr, auch weiter so zu denken, aber sie wusste wohl kaum, wie lang, wie mühselig für mich diese vierzehn Wochen Abwesenheit gewesen waren, wie glühend ich meine Ferien herbeigesehnt hatte und wie tief enttäuscht ich über ihre kurze Dauer war. Aber das war nicht ihre Schuld; ich hatte niemals mit ihr über meine Gefühle gesprochen, und man konnte nicht von ihr erwarten, dass sie sie erriet. Ich war noch kein ganzes Quartal bei ihr, und sie war im Recht, mir keinen vollen Urlaub zu gewähren.
Die Großmama
Ich erspare meinen Lesern den Bericht darüber, wie froh ich war, nach Hause zu kommen, das Glück, das ich dort empfand – ich genoss die kurze Zeit der Erholung und Freiheit an diesem lieben, vertrauten Ort, unter Menschen, die mich liebten und denen ich von Herzen zugetan war –, und über meinen Kummer, erneut für lange Zeit von ihnen Abschied nehmen zu müssen.
Ich begab mich jedoch mit unverminderter Kraft wieder an die Arbeit – eine anstrengende Aufgabe, die nur für jemanden vorstellbar ist, der etwas Vergleichbares erlebt hat wie das Problem, mit der Aufsicht und Unterweisung einer Schar boshafter, wilder Rebellen betraut zu sein, die man auch mit der größten Mühe nicht zu ihren Pflichten zwingen kann; und man sich zugleich für ihr Benehmen einer höheren Instanz gegenüber verantworten muss, die von einem fordert, was nur mit Hilfe der größeren Autorität eben dieser Instanz, der Eltern, erreicht werden könnte, die diese aber aus Gleichgültigkeit oder aus Angst, sich bei der besagten aufsässigen Bande unbeliebt zu machen, verweigern. Ich glaube, es gibt nichts Nervenaufreibenderes – ob man sich nun nach Erfolg sehnt oder sich abmüht, seine Pflicht zu erfüllen –, als wenn alle Anstrengungen von den Schutzbefohlenen hintertrieben und für nichts geachtet und von den Eltern ungerecht beurteilt und verkannt werden.
Ich habe die üblen Neigungen meiner Schüler, die Sorgen, die mir aus der erdrückenden Last der Pflichten erwuchsen, nicht einmal zur Hälfte aufgezählt, um die Geduld meiner Leser nicht allzu sehr zu strapazieren, was ich allerdings vielleicht bereits getan habe. Aber als ich diese letzten Seiten schrieb, geschah dies nicht in der Absicht zu unterhalten, sondern um denjenigen zu nützen, die es unmittelbar betrifft: Wer kein Interesse daran hat, wird sie vermutlich nur flüchtigen Blickes überflogen und die Weitschweifigkeit der Autorin verwünscht haben. Wenn aber ein Vater oder eine Mutter auch nur einen brauchbaren Hinweis erhält, eine unglückliche Erzieherin auch nur den geringsten Nutzen daraus zieht, sehe ich mich für meine Mühe entschädigt.
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