Jasper Nicolaisen
Totes Zen
„Den Feind zu erschlagen ist der Weg der Strategie. Es gibt keinen Grund, dies weiter auszuführen.“
Miyamoto Musashi
„Ich wollte, mein Vater oder auch meine Mutter, oder eigentlich beide – denn es wäre wirklich Beider Pflicht und Schuldigkeit gewesen – hätten sich ordentlich zu Gemüte geführt, was sie tun wollten, als sie mich zeugten.“
Laurence Sterne
Tristram Shandy
Wenn ich mir die Karte des Berges mit seinen Verliesen und Minen, mit seinen Tunneln und Fallgruben, mit den Luftschächten und Lavakanälen, mit den endlosen Treppen und bodenlosen Abgründen anschaue, denke ich die Schrecken, die darin hausen. Wenn ich mir die Karte des Berges ansehe, sehe ich meinen Vater.
Das mag am taubenblauen Licht dieses Wintermorgens liegen.
An der Abenteurerakademie zwang man mich, absolut alle Werke des elfischen Existenzialisten Frantisek Fafner zu lesen. Alle seine Texte sind gleich, sodass ich mich in den Klassenarbeiten meist auf Variationen der Wörter „Bürokratie“, „Sinnlosigkeit“ und „Schuld“ beschränkt habe. Manchmal kam auch noch ein „absurd“ dazu. Sein berühmter „Brief an den Vater“ hätte mich vielleicht interessieren sollen. Allerdings war er mir zu lang – meinem Vater hätte ich nie einen Brief geschrieben, der ein ganzes Buch in Anspruch nimmt. Einer von den Zaubererbrillis, die ich zwang, meine Hausaufgaben zu machen, hat mir erzählt, dass Fafner von seinem Vater, einem Gemischtwarenhändler aus dem Elfenghetto von Arg, damit gedroht wird, er werde ihn „zerreißen wie einen Goblin“. Oder Gobelin, das weiß ich nicht mehr so genau. Wenn ich gut mit Wörtern wäre, hätte ich nicht an der Abenteurerakademie von Ha´wat einen Abschluss in Berserkertum und Barbarei gemacht. Ich hätte auch gar nicht gewusst, wohin ich den Brief hätte senden sollen. Mein Vater war ja unter dem Berg verschollen. Auf der Suche nach dem sagenumwobenen Echtjuwel der Zwerge. Das war der andere Grund, warum ich Barbar werden wollte und unter den Berg ziehen. Jedenfalls gab es nur einen Text von Fafner, der es mit wirklich angetan hat. Es ist die „Anekdote über die Resignation“.
Auf seinem Feldherrenhügel, hoch über den ineinander verkeilten Heeren senkt der General Wallenstein die Fahne, und schreitet, als gäbe es gar keinen Kampf, als wogten nur die Wellen eines schwarzen Sees um seinen Aussichtspunkt, über die Köpfe der Soldaten auf den Horizont zu. In diesem Augenblick tönen Tempelglocken aus der belagerten Stadt quer zur Laufrichtung des Feldherren. Die ihm die Köpfe nachwenden, rufen dem stetig kleiner werdenden Punkt am Ende des Himmels zu: „Dass du uns verlässt, können wir dir verzeihen. Aber dass du nicht den Glocken folgst in die Stadt, die manche von uns bis aufs Blut verteidigen und andere mit Blut erobern wollen, das bringt uns zum Weinen.“ Auf dem Hügel liegt das Feldzeichen und spricht für keine Wehrhaftigkeit.
Der revolutionäre Theaterdichter Wertwolf Kläfft bemerkt dazu in einem Brief aus dem Exil an den Kollegen Erik Plag: „Was ist das für ein Feldherr, der die Standarte selber trägt? Hat der denn keinen Standartenträger? Ich wünschte, er träte den ganzen Hügel um, dass er das eigene und das fremde Heer ersticke und die umkämpfte Stadt gleich dazu. Dann hätte er alles Recht, über den stummen Schlamm zu gehen, wohin er will.“
Ich wusste als Kind von all dem nichts. Ich stellte mir vor, dass mein Vater schweigend und brütend am Mittagstisch saß, und meine Mutter immer fahriger versuchte, die Stille zu füllen, und wir alle wussten, dass mein Vater etwas ganz anderes von uns erwartete – oder vielleicht auch nichts, dass es uns einfach nur nicht gäbe –, dass seine Resignation das gesenkte Feldzeichen nicht so deutlich zur Schau stellte. Ich konnte es weder anschauen und entziffern noch ignorieren. Es sagte immerfort: „Hier sitze ich stumm und kämpfe nicht mit all meinen waffenstarrenden Heeren, die ich, wer weiß zu welchem Zweck hier versammelt habe. Jede Sekunde kann ich es mir anders überlegen. Gleich, ob ich angreife oder nicht, es ist eure Schuld.“ Ich musste mir das Brüten und das Mittagessen vorstellen, denn mein Vater hatte meine Mutter schon vor meiner Geburt verlassen. Es war nichts von ihm auf mich gekommen, als ein magisches Schwert mit einem dämlichen Namen, eine Prophezeiung, der ich nicht gerecht werden konnte, und die hasserfüllten Schilderungen meiner Mutter von ihm. Anders als brütend und resigniert konnte ich ihn mir nicht vorstellen. Das war besser als nichts. Manchmal besuchte er mich in meinen Träumen. Aber dazu später mehr.
Wenn Sie jetzt sagen: Das ist ja gar kein richtiger Anfang für eine Geschichte, dann haben Sie zweifellos recht. Bitte lesen Sie noch einmal nach, was ich über meine Motivation für den Abschluss an der Akademie geschrieben habe. Ich fange gleich noch mal an. Ich erzähle Ihnen von der Akademie, von meiner Fahrt unter den Berg, von den Gefahren, die dort auf mich lauerten, von den Gefährten, die ich dort um mich versammelte, und von meinem Vater. Es wird ja in der Götter Namen nicht geradezu ein ganzes Buch in Anspruch nehmen. Und somit fange ich an.
„Dann wären wir ja wohl fertig.“ Der Zwerg sah mich über die Goldrandbrille hinweg an, während er den Vertrag zusammenrollte. Ich rieb mir die schmerzende Stelle am Arm, wo er mich mit dem Ritualdolch geschnitten hatte, um mir das Blut für die Unterschrift zu entnehmen. Natürlich hatte ich im Lauf meines Abenteurerlebens bedeutend schwerere Verletzungen davon getragen, aber irgendwie tat diese ganz besonders weh. Die Augen des Zwergs wurden durch die Kristallgläser unnatürlich vergrößert. Ich musste an ein glubschäugiges Tier denken, das mir irgendein Gift injiziert hatte. Der Rauch aus den simmernden Kohlebecken verursachte mir Kopfschmerzen. „Klar“, sagte ich. Zum Glück klang es noch abgebrüht. Dabei konnte ich einfach bloß nicht mehr hervorpressen. „Schön.“ Das Pergament war verschwunden. Keine Ahnung wo. Ich stellte mir vor, wie es durch Rohrpostsysteme im zwergisch kontrollierten Teil des Bergs sauste, um irgendwo tausend Meilen unter der Erdoberfläche von einem Goblinsklaven abgeschrieben zu werden. Und wieder abgeschrieben. Und wieder. Zwerge waren für ihren analen Charakter bekannt, wenn es um Dokumente ging. Ob der Goblin sich für jede Kopie Blut aus dem Arm ziehen musste? Oder hatten die da unten Blutkonserven jeder Spezies auf der weiten Welt vorrätig? „… absolut tödlich.“ Der Zwerg, der gerade einen Satz beendet hatte, sah mich erwartungsvoll an. Mit den Händen machte er dieses Zeltdings, das mich schon bei meinen Lehrmeistern total wahnsinnig gemacht hatte. „Natürlich.“ Ich nickte und tat so, als hätte ich die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Er stand auf und reichte mir die Hand. Ich blieb sitzen und schüttelte sie. Der Schreibtisch war verdammt wuchtig und der kleine Kerl musste sich ordentlich strecken. Wie um sich an mir für diese kleine Demütigung zu rächen sagt er mir direkt ins Gesicht: „Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen. Wie gesagt, wenn Sie die Wirbelsturmtreppe überleben, haben Sie ganz gute Chancen. Und grüßen Sie den Eulenmenschen von mir.“ Der Eulenmensch war der Abenteurer gewesen, den sie vor mir in den Berg geschickt hatten. Ich kannte ihn flüchtig. Er war auf der Akademie zwei Jahrgänge über mir gewesen. Ein riesiger Bursche mit mörderischen Krallen, grausamem Schnabel und diesen gelben Augen, die diese Spezies so unheimlich macht. Meine Zimmergenossin Ashwanta hatte eine Cousine im Abschlussjahrgang, die wohl mal was mit ihm gehabt hatte und morgens immer total blutig und zerkratzt durchs Fenster stieg.
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