»Die Abschlussleisten müssen raus«, sagte Frank. »Alle. Und dann müssen wir sehen, ob wir die Stützen, die das Dach tragen, retten können. Aber zuerst muss die Einfassung entrostet und behandelt werden. Kannst du das machen?«
Tom nickte. Er kam sich vor wie ein Schuljunge, der nicht bemerkt hatte, dass sich in seinem Ranzen eine giftige Spinne häuslich eingerichtet hatte. Seine alte Barkasse war stärker beschädigt, als er vermutet hatte. Der Plan, nach zwei oder drei Tagen Greifswald wieder verlassen zu können, löste sich in Luft auf. Und wovon er die Rechnung bezahlen würde, war ihm auch noch nicht klar.
Sie stiegen an Deck. Nieselregen hatte eingesetzt. Frank reichte ihm seine kräftige Hand und stieß, als er an Land gehen wollte, beinahe mit Tanja Grundler zusammen.
»Ah, der Schiffsdoktor?«
»Die Diagnose war nicht sehr erfreulich«, sagte Tom grummelnd. Tanja deutete auf das Werftgelände. »Hier war ich noch nie. Das ist ja fantastisch.« Sie ging ein paar Schritte zum Hof der Museumswerft und stolzierte dabei wie ein Storch über die Transportschienen, auf denen die reparaturbedürftigen Schiffe aus dem Wasser gezogen werden konnten. Überall lagen Holzreste herum. Neben der großen Slipanlage war ein alter Segler aufgebockt. Die Werftleute hatten die Bordwand an mehreren Stellen geöffnet, aus den Spanten waren Teile herausgesägt worden. Dahinter gähnte ein schwarzes Nichts. Es war eine Operation am offenen Herzen, in der Luft hing der Geruch nach Schiffspech und feuchtem Holz. »Das ist unheimlich. Und beeindruckend.«
Tom war Tanja gefolgt. »Hier bekommt man eine etwas andere Vorstellung von der Zeit, in der die Mondnachtbilder aus dem Museum entstanden sind, oder? Harte Arbeit, gebrochene Planken, vernarbte Schiffe. Das unaufhörliche Ankämpfen gegen Undichtigkeit, Fäulnis und ungünstige Winde.«
»Willst du mir mein Faible für die Romantik austreiben?«
»Ich denke, dass man nicht die Bodenhaftung verlieren sollte.«
Tanja wandte sich zur MATHILDA um. »Und das Schiffchen da? Ist das nicht auch so ein Ding, mit dem man den festen Boden hinter sich lässt?«
Tom musste lächeln. »Ertappt. Ich habe die Barkasse tatsächlich vor der Verschrottung gerettet, als ich in einer echten Krise war. An dem Boot herumzubasteln war monatelang das Einzige, was ich hinbekommen habe.«
Sie gingen zurück zur MATHILDA. Tanja ließ sich die Barkasse zeigen und staunte über den gemütlich eingerichteten Salon, der sich gerade in eine Baustelle verwandelte. Tom hatte bereits eine Kanne mit Kaffee bereitgestellt, aber Tanja schlug vor, einen Spaziergang zu machen. »Ich muss nachher noch zu einem Besuch in die Universitätsklinik. Auf dem Weg dorthin kann ich dir einen meiner Lieblingsorte in Greifswald zeigen. Ich denke, bei dem tristen Wetter werden wir niemanden treffen, der mir Ärger machen könnte.«
Sie gingen zur neu angelegten Uferpromenade und überquerten dann das Hafenbecken auf der Fußgängerbrücke. Tom berichtete von seinem Besuch als vermeintlicher Investor bei der Starkwind AG. »Nach außen geben die sich fortschrittlich und naturverbunden. Aber ich denke, das ist nur die halbe Wahrheit. Das Unternehmen steht unter Druck, weil im Augenblick kaum noch neue Windparks gebaut werden. Der Geschäftsführer behauptete aber, dass er kurz davor sei, für den Windpark auf der Friedländer Großen Wiese eine Genehmigung zu beantragen.«
Tanja sah ihn erschrocken an. »Dazu bräuchte er doch Zugriff auf alle Grundstücke.«
»Korrekt. Vielleicht hat er geblufft. Ich bin mir nicht sicher.«
»Wie kann das sein? Meinst du, sie haben Malte …?«
»… entführt? Erpresst? Keine Ahnung. Ich überwache das Auto des Geschäftsführers – nicht ganz legal, aber anders komme ich nicht dran. Zwischenzeitlich habe ich überlegt, ob es nicht besser wäre, einen weiteren Vorstoß bei der Polizei zu unternehmen. Ich habe kein gutes Gefühl.«
Tanja schüttelte den Kopf. »Die sind so träge, so unwillig.«
»Hast du Informationen über die Landbesitzer, auf deren Flächen die Windräder gebaut werden sollen? Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, Maltes Flurstücke zu umgehen?«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Das hätten sie sonst längst gemacht. Seit acht Jahren geht das Gezerre jetzt schon. Malte hat mir mal einen Plan geschickt, auf dem die Grenzen seines Landes eingezeichnet sind. Sie brauchen diese Flächen.«
Als sie den Hansering hinter sich gelassen hatten, wurde der Uferweg ruhiger. Sie passierten neu errichtete Wohnkomplexe, an der Kaimauer wechselten sich historische Segler mit modernen Jachten ab. »Es geht mich ja nichts an«, sagte Tom, »aber gibt es da keine Kompromissmöglichkeiten? Der Strom der Windräder wird ja dringend gebraucht.«
Tanja schüttelte den Kopf. »Ich will mich da nicht einmischen. Maltes Verhalten wirkt von außen vielleicht verbohrt, aber es stimmt doch, was er sagt: Du kannst einen Seeadler nur einmal umbringen. Die Natur ist immer auf der Verliererseite, wenn der Mensch sich ausbreitet. Das alles wird in eine globale Katastrophe führen, die längst begonnen hat. Es muss Menschen geben, die bedingungslos für die Natur eintreten.«
Tom fiel es schwer, von einem einzigen Windpark auf die ganze Welt zu schließen. »Ich bin im Augenblick etwas ratlos, wie es weitergehen könnte.«
Sie hatten inzwischen ein Wohngebiet gestreift und standen jetzt vor einem halb geöffneten schmiedeeisernen Tor. »Hier willst du hin?«, fragte Tom. »Auf einen Friedhof?«
»Es ist nicht irgendein Friedhof – es ist der Alte Friedhof von Greifswald, angelegt vor über zweihundert Jahren. Lass uns reingehen.«
Tom hielt das wieder für eine von Tanjas Marotten. Aber schon nach den ersten Schritten begann er zu verstehen, warum sie diesen Ort faszinierend fand. Die Betriebsamkeit der Stadt war vergessen. Bäume wuchsen zwischen und dicht neben den Gräbern, an einigen Stellen wirkte es so, als würden die alten Grabsteine von mächtigen Wurzeln gehalten wie von Händen. Kleine Monumente, verwitterte Statuen und sehr alte Grabmäler schienen Geschichten zu erzählen, denen die wuchernden Gräser und Sträucher aufmerksam zuhörten. Viele der menschlichen Gedenkzeichen waren von Efeu umschlungen; es schien so, als hätte sich das Reich der Verstorbenen mit dem der Natur verbündet.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte Tanja. Sie kramte in ihrer Handtasche und reichte Tom einen Zettel. »Das ist die Telefonnummer von Dirk Pölzner. Ich habe ihm schon Bescheid gesagt, dass du dich bei ihm meldest. Er ist ein etwas eigenwilliger Typ, fünfzig Jahre alt, wohnt bei seiner Mama, im gleichen Dorf, in dem auch Malte mit seiner Familie bis vor eineinhalb Jahren gelebt hat. Pölzner ist Maltes Nachfolger als Naturschutzwart am Prägelbach und irgendwie ein Fan von ihm.«
»Ein Fan?«
»Er bewundert ihn. Vor allem interessiert er sich für Greifvögel. Angeblich vertreibt die Starkwind AG an bestimmten Stellen Seeadler und Milane. Soweit ich weiß, versucht Pölzner, Beweise dafür zu finden.«
Tom steckte den Zettel ein. Sie waren am Ende des Friedhofs angekommen. Ein Zaun trennte ihn von einer weitläufigen Brachfläche, dahinter waren die Masten der Segelschiffe zu sehen, die sich am Ufer des Ryck aufreihten. In dieser Stadt schien wirklich alles miteinander verbunden zu sein, dachte Tom. Tanja drehte sich um und folgte seinem Blick. »Da draußen auf diesem wilden Gelände geht Malte gern joggen. Er wohnt gar nicht weit von hier. Ich war schon einige Male hier und an seiner Wohnung. Natürlich immer, ohne eine Spur von ihm zu entdecken.«
Sie waren plötzlich wieder beim Thema. »Die Ungewissheit muss sehr quälend für dich sein«, sagte Tom. Der Satz reichte, um bei Tanja einen Damm brechen zu lassen. Ein Schwall bitterer Worte platzte aus ihr heraus. »Es ist die Hölle. Zuhause in Ueckermünde kann ich mit niemandem sprechen. Du bist jetzt der einzige, aber auch meine Besuche hier müssen geheim bleiben. Ich brauche immer einen Vorwand, um nach Greifswald zu fahren. Das geht im Augenblick ganz gut, weil ich einen alten Herrn aus unserer Gemeinde besuche, der in der Universitätsklinik liegt.«
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