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Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung
Daraus ergibt sich die Grundstruktur der administrativen Handlungsprojektionen, wie sie noch den Regimentstraktaten des 16. Jahrhunderts zugrunde liegen: Da das politische System schon zum Zeitpunkt seiner Entstehung nicht mehr verbesserungsfähig schien, sondern im Gegenteil als eine Schöpfung Gottes bereits ein Höchstmaß an innerer Stimmigkeit, Harmonie der Einzelteile und Funktionsgerechtigkeit aufwies, musste jede Veränderung seiner Eigenschaften zu einer Verschlechterung führen. Das politisch-administrative Ziel bestand somit darin, die überlieferte Sozial- und Wirtschaftsordnung zu stabilisieren, indem man sie von allen Veränderungen, die die überlieferte Ordnung störten, abzuschirmen suchte.[21] „Missbrauch“ und „Unordnung“ waren die im 16. Jahrhundert typischerweise verwendeten Ausdrücke für solche Störungen, welche die ursprünglich gute Ordnung in Unordnung brachten. Sie standen im Mittelpunkt der Policeyordnungen, die mit dem Verbot aller „Missbräuche“ das Gleichgewicht der ursprünglichen Ordnung wiederherstellen wollten;[22] die Policeyordnungen bieten daher geradezu ein Panoptikum der innenpolitischen und administrativen Problemlagen.[23]
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Moralische Ordnung
Es ist allerdings deutlich zu erkennen, dass der Religionspolicey im „konfessionellen Zeitalter“ der beginnenden Neuzeit ein besonderer Stellenwert zukam. Es war ohne Zweifel das Feld der sittlich-mentalen Formung der Untertanen einschließlich der hierfür erforderlichen Institutionen der Seelsorge, der Sittenzucht und der Bildung, auf dem die Verwaltungslehre der beginnenden Neuzeit die steuernde Ordnungstätigkeit des Staates in Gestalt von Normgebung und Sanktionierung am nachdrücklichsten eingefordert hat.[24] Es war augenscheinlich dieser Punkt, der den Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts in besonderer Weise unter den Nägeln brannte: Die Bemühungen der Kirche, die Gesellschaft mit den kirchlich-religiösen Geboten und Moralnormen zu durchdringen und die Menschen zur konsequenten Befolgung der christlichen Gebote und einem moralischen Lebenswandel anzuhalten, erschienen den Zeitgenossen vielfach wirkungslos. Demgemäß hielt man seit dem Beginn der Neuzeit vor allem auch staatliche Anstrengungen in diese Richtung für erforderlich. In der Tat trat der Staat seit Beginn der Neuzeit mit dem Bemühen auf den Plan, den Glauben und die Moral, ja das ganze religiöse und sittliche Verhalten der Untertanen, zum Gegenstand der „Policey“ und damit auch zum Gegenstand der Gesetzgebung zu machen. Schwören und Fluchen, gotteslästerliches Reden und die Missachtung der Feiertagsheiligung durch Arbeiten und bedenkliche Vergnügungen, regelmäßiger und pünktlicher Gottesdienstbesuch, die religiöse Kindererziehung – all dies wurde nun, um nur einige Regelungsbereiche zu nennen,[25] auch zum Gegenstand staatlicher Normgebung und Sanktionierung.[26] Besonders ausgeprägt war dies naheliegenderweise in den protestantischen Territorien der Fall, aber das Grundmuster war auch in den katholischen Territorien anzutreffen, nämlich die partielle Verstaatlichung der Religionssorge und die Tendenz, die Kirche einer staatlichen Oberaufsicht zu unterstellen. Diese neue Aufgabe war nur noch mit Hilfe eines ausgebauten institutionellen Apparates zu erfüllen. Denn Seelsorge und Schulwesen, Frömmigkeit und Bildung der Untertanen waren allein mit dem herkömmlichen policeylichen Handlungsinstrumentarium – Normgebung und Sanktionierung – nicht zu leisten. Dies war nur erreichbar mit einem Minimum an institutioneller Struktur, mit deren Hilfe sich „Leistungen“ erbringen ließen: Gottesdienst, Seelsorge, religiöser Unterricht, Erziehung und Lehre. In der Tat kam es zu Beginn der Neuzeit – jedenfalls außerhalb der fürstlichen Kammerverwaltung[27] – zu einer ersten Differenzierung des Behördenapparates: Damals entstand ein neuer Behördenzweig, der speziell für die Überwachung der Seelsorge- und Bildungsinstitutionen des Territoriums zuständig war.[28]
III. Verwalten als „Wirtschaften“: Die ökonomische Policey und das neue Verwaltungsverständnis des 18. Jahrhunderts
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Wandel des Verwaltungsverständnisses
Bis in das 18. Jahrhundert hinein zeigt die Verwaltung in den deutschen Territorien jenes stark justizielle Gepräge. Im Laufe des 18. Jahrhunderts bekam sie dann allerdings einen deutlich veränderten Grundzug. Die Registrierung und Ahndung von Normverstößen rückten nun gegenüber anderen Funktionen deutlich an den Rand. Stattdessen schob sich das Element der Planung und der ökonomischen Entwicklung des Landes in den Vordergrund. Dies war allerdings keineswegs in allen Territorien des Reiches gleichermaßen der Fall, aber in einigen Staaten ist ein tiefgreifender Wandel zu verzeichnen – besonders dezidiert in Brandenburg-Preußen. In anderen Territorien verblieb es hingegen – in ganz unterschiedlichen Abstufungen – beim traditionellen Policeyverständnis.
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„Status“ als neuer Schlüsselbegriff der Politik
Bedingt war diese Veränderung des Verwaltungsverständnisses durch einen Wandel der Ordnungsvorstellungen und Verwaltungsziele. Naheliegenderweise hat dies auch einen Wandel mit sich gebracht, was die Arbeitsweise der Verwaltung anbelangt. Dahinter stand eine grundlegende Veränderung des politischen Denkens im Laufe des 17. Jahrhunderts.[29] Ein zentraler Aspekt dieses säkularen politischen Ideenwandels ist in der Freisetzung des Machtstaatsgedankens zu sehen: Das politische Denken wird im 17. Jahrhundert immer stärker von der entscheidenden Ausgangsfrage bestimmt, wie sich die Macht des Princeps, insbesondere sein militärisches Durchsetzungsvermögen, stärken ließe. Beides wurde mit dem aus der italienischen Ratio status-Lehre rührenden Wort status zum Ausdruck gebracht. Damit waren alle diejenigen Faktoren angesprochen, welche für die Macht des Fürsten als ausschlaggebend betrachtet wurden.[30] Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde dieser status immer stärker als rein finanziell-militärische Größe aufgefasst: Die Macht des Fürsten wurde mehr und mehr durch die ihm zu Gebote stehenden militärischen und finanziellen Mittel definiert. Der Ausgangspunkt wie auch die Bezugsgröße des politischen Denkens haben sich damit grundlegend verändert:[31] Ausgangspunkt des älteren politischen Denkens war die „Policey“ gewesen. Das Wort „Policey“[32] stand für das Gemeinwesen als Ganzes. Mit dem status hingegen war allein die Macht des Fürsten umschrieben.
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Machtsteigerung als politisches Ziel
Seit dem 17. Jahrhundert war das politische Denken zunehmend auf diesen status konzentriert: Es kreiste nunmehr um die Frage, wie sich der Fürsten-Status stärken ließe; es entwickelte Strategien der Machtstabilisierung und -steigerung. Das war etwas gänzlich Neues und es wurde damals auch, als diese Form des politischen Denkens allmählich auch im Reich heimisch wurde, als ausgeprägter Traditionsbruch empfunden – in vielen Fällen sogar als Bedrohung des überkommenen politischen Wertegefüges betrachtet.[33] Denn dem älteren politischen Denken war es keinesfalls darum gegangen, die Macht des Fürsten möglichst effektiv zu steigern. Ihm ging es vielmehr um die Bewahrung der überlieferten sozialen und politischen Ordnung. Für diejenige politische Größe, die in der Sprache des Barockzeitalters mit dem Wort status umschrieben wurde, gab es zuvor noch gar keinen Begriff – es kam in der politischen Reflexion des 16. Jahrhunderts schlechthin noch nicht vor.
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Rechtfertigung: innere und äußere Sicherheit
Die Rechtfertigungsmuster für einen starken und machtvollen status, wie er in der Politikliteratur des 17. Jahrhunderts typischerweise anzutreffen ist, lassen auch den Hintergrund für die rasche Verbreitung dieser Politiklehre erkennen: Immer wieder wird die Gefährdung des ganzen Gemeinwesens durch Bürgerkrieg und äußere Feinde beschworen, sodass zum Schutz der Gemeinschaft und zur Niederhaltung des ihr inhärenten Gewaltpotenzials ein starker und handlungsmächtiger status unumgänglich notwendig erscheint.[34] Die Vermutung liegt nahe, dass hier nicht zuletzt die katastrophenhaften Erfahrungen der konfessionellen Bürgerkriege wirksam wurden, die ein Land wie Frankreich an den Rand nahezu vollkommener Desintegration haben treiben lassen und im Reich in das Inferno des Dreißigjährigen Krieges mündeten.[35] Es muss jedenfalls auffallen, dass die Politikliteratur des 17. Jahrhunderts in ganz neuartiger Akzentuierung tranquillitas rei publicae und securitas publica zum entscheidenden, ja geradezu existenziellen Politikziel erhob, dem alles andere unterzuordnen sei.[36] Daraus wiederum folgte in der politischen Einschätzung dieser Zeit die evidente Notwendigkeit starker Rüstung, um sich gegen außen schützen und den inneren Frieden auch im Zeitalter konfessioneller Desintegration erzwingen zu können.[37] Nach den militärpolitischen Maximen dieser Zeit war dies nur mit dem Aufbau eines stehenden Heeres zu erreichen.
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