Persönliche Liebe; globalisiertes Leid
S. Asef Hossaini
Die deutsche Fassung dieses Werkes ist mit Unterstützung des deutschen Übersetzerfonds Berlin entstanden.
Impressum
© 2022 S. Asef Hossaini
Layout und Satz: S. Asef Hossaini
Herausgeber, Verlag:
Herbert Schnalzer, Lifebiz20 Verlag
Frösau 17, A-8261 Sinabelkirchen
www.lifebiz20.academy/verlag
Grafische Qualitätskontrolle:
Markus Ponhold
www.grafik20.at
ISBN Taschenbuch: 978-3-9505197-0-9
ISBN E-Book: 978-3-9505197-1-6
Kapitel 1 Manche Menschen sind so gut, dass man in der Erinnerung an sie lebt und lächelt, wenngleich man sie vermisst . Über dem Wohl und Übel steht ein Feld. Auf diesem werden wir uns wiedersehen . 1 A tribute to beauty and wisdom
Kapitel 2 2 Es war noch dunkel. Der Zug fuhr unaufhaltsam ins Büro. Ich hatte gleich am dritten Tag erkannt, dass das kein Ort für mich war, aber inzwischen arbeitete ich schon im fünften Jahr hier und schlug mich mit den Leuten herum. Wie immer am Wochenende war ich auch diesmal leise neben ihr aufgestanden, hatte geduscht und mich angezogen. Als ich los musste, hatte ich behutsam ihr Gesicht geküsst, sie hatte die Augen geöffnet und mit einem sanften Lächeln geflüstert: „Ich wünsch‘ dir einen schönen Tag.“ Dann hatte sie mich zärtlich geküsst. Der Zug ratterte vor sich hin und schluckte an jeder Haltestelle ein oder zwei weitere Betrunkene. Anscheinend waren der Lokführer und ich die einzigen, die an diesem Morgen nicht betrunken waren. Ein Typ schrie so laut, dass ich zusammenfuhr, dann fläzte er sich auf einen der Sitze und fing bald an, laut zu schnarchen. Manchmal denke ich: Wir sind im Paradies der Säufer und der Hunde. Säufer und Hunde können sich hier alles erlauben und kein Schwein interessiert‘s. Noch wenn sie ausfällig werden und randalieren, darf niemand grob mit ihnen umspringen. . In Kabul waren zwei Bomben nacheinander explodiert und die Zahl der Todesopfer stieg und stieg. Die zweite Bombe war hochgegangen, als die Leute nach der ersten Explosion zusammengeströmt waren, um den Verletzten zu helfen. Am Abend zuvor war andernorts im Land eine Gruppe Armeesoldaten getötet worden. Solche Nachrichten sagten uns nicht mehr viel, weil wir weder etwas über die Selbstmordattentäter noch über die getöteten Soldaten wussten. Die Behörden verbreiteten ihr Kommuniqué und nannten Details und Zahlen, die wir veröffentlichten, die uns aber nicht interessierten. . Als ich abends nach Hause kam, war sie weg. Am Wochenende musste sie immer Freunde und Familie treffen. Auf dem Tisch lag ein roter Zettel, ausgeschnitten als Herz, auf dem auf Deutsch dick stand: „Ich denke an dich.“
Kapitel 3 3 Draußen tropfte und plätscherte es. Ein Abend im Herbst ist erst dann ein Herbstabend, wenn es auch regnet. Draußen blieb ab und zu ein Passant vor dem Café stehen, schaute auf das Schild und ging mit einem Lächeln weiter. Manche zogen blitzschnell ihre Handys, wie Cowboys ihre Pistolen, machten ein Foto und gingen weiter. Auf das Schild hatte jemand geschrieben: „Warum hat der Hipster sich an seinem Kaffee verbrannt? Weil er ihn getrunken hat, bevor er cool war.“ Der Witz war ziemlich flach, aber Flachwitze waren gerade in Mode. Wer keine flachen Sprüche brachte, war nicht cool und wer nicht cool war, war ein Spießer. Luna hatte wie immer einen Latte bestellt und ich einen Cappuccino. Ich hatte nie verstanden, was eigentlich der Unterschied ist. Ich glaube, beim einen schüttet man erst die Milch ins Glas, dann den Kaffee, und beim anderen erst den Kaffee, dann die Milch. Und wenn man einmal umrührt, ist das Ergebnis dasselbe. Aber immer, wenn ich das sagte, erwiderte Luna: „Nein, das stimmt nicht. Eine Latte macht man, indem man ...“ Sie hatte ein paar Monate in einem Eiscafé gearbeitet. Als wir uns gerade kennengelernt hatten und uns jede Woche trafen, zeigte sie mir einmal ihre Hand, die sie sich bei der Arbeit verbrannt hatte. Mich beschäftigte das mehrere Tage: Warum musste ausgerechnet so eine schöne Hand sich verbrennen?! Ein beliebiges Körperteil von jemandem wie mir; okay, davon geht die Welt nicht unter. Aber ihre Hand?! Mit diesen langen, schlanken Fingern ... ! Ich war in alles an ihr verliebt. Beim Menschen regen sich die Hände erst spät. Man muss schon sehr mit einem Menschen vertraut sein, ehe sie beginnen ihn zu streicheln. Aber Hände haben eine tiefere Ehrlichkeit als Augen. Ich habe tausend Augen lügen sehen, aber nie eine Hand! Es ist, als hätten unsere Hände Zugang zur Seele. Neugeborene greifen mit geschlossenen Augen nach der Hand der Mutter. Seit wir einmal mit dem Zug durch Blumenfelder irgendwo in Westeuropa gerollt und unsere Finger wie Schwäne durch die Lüfte geschwebt waren, glaube ich sogar, dass unsere Fingerspitzen einen direkten Draht zum Herzen haben. Damals umschmeichelten sich unsere Finger, verschränkten sich ineinander, bis sie wie ein sanfter Südwind über die nackte Haut strichen. Ich starrte durchs Fenster auf die Leute, die Fotos von dem lächerlichen Satz machten. Sie streckte ihre Hand nach meiner aus, mit der ich die Tasse hielt, und legte sie darauf. Sie war es nicht gewohnt, hohle Phrasen von sich zu geben wie „Alles wird gut, sei nicht traurig.“ Sie streckte nur ihre Hand aus, schaute mir tief in die Augen und lächelte. Wir konnten uns ohne Worte viel mehr sagen.
Kapitel 4 4 Warum sieht man die traurigsten Dinge immer dann, wenn es einem selbst nicht gut geht? Luna meinte, das sei ein typisches Merkmal von Depression; dass man Negatives anzieht wie ein Magnet. Sie sagte „wie ein Magnet“, streckte dabei ihre Hände von sich und öffnete und schloss die Finger. Es war mal wieder ein trister Samstag. Den Talibankämpfern hatte man anscheinend gesagt, sie sollen sich freitags ordentlich ausruhen, um dann am Samstagmorgen genau um halb acht, wenn die Leute zur Arbeit gingen, zuzuschlagen und sich in die Luft zu sprengen. In der Redaktion stritten wir um die richtige Formulierung. Ich war dafür, zu schreiben: „Sie haben sich selbst in die Luft gesprengt“; die anderen meinten, man schreibe besser, sie hätten „ihre Bomben explodieren lassen“. Ich fand, wenn man ein Selbstmordattentat begeht, ist man selbst Teil der Bombe. In Jalalabad, Kabul und Tachar waren mehrere Hundert Menschen getötet worden, darunter 24 Soldaten, die ein eingeschleuster Talib mit Schlafmitteln im Essen betäubt und anschließend ermordet hatte. Wir schrieben nur die Zahlen auf und korrigierten sie, je nach Nachrichtenlage, nach oben oder unten. Auf dem Weg nach Hause blieb unser Zug an einem Provinzbahnhof stehen, doch die Türen blieben verschlossen. Wir durften nicht aussteigen und folglich konnte ich auch nicht mit dem Taxi nach Hause fahren. Anscheinend war das irgendwo angekündigt worden, aber ich hatte nichts mitbekommen. Grund war eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg, die entschärft oder gesprengt werden sollte. Draußen auf dem Bahnsteig stand eine ältere Dame in einem eleganten cremefarbenen Mantel mit blassem Karomuster, die ihrem Mann den Mantel zuknöpfte. Ihre Hände zitterten und es dauerte eine Weile, ehe sie alle Knöpfe zu bekam. Die Frau raffte auch noch seinen Schal zurecht, dann hakte sich der Mann, der in der linken Hand einen Gehstock hielt, bei ihr unter und sie setzten sich langsam in Bewegung, genau wie früher, wenn sie ins Konzerthaus gegangen waren, mit dem einzigen Unterschied, dass es damals sie gewesen war, die sich in ihrer Abendrobe bei ihm untergehakt hatte. Als ich Luna davon berichtete, sagte sie: „Wie verliebt und romantisch!“ Ich fragte: „Findest du‘s nicht auch ein bisschen traurig?“ „Nein“, war ihre Antwort.
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