Kapitel 5 5 Draußen vor dem Café hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Nach dem heißen Sommertag hatte es sich am Abend ein wenig abgekühlt; die perfekte Zeit, um einen Fuß vor die Tür zu setzen, sich zu treffen und vielleicht auch eine Weile Michael zuzuhören, der eben aus Andalusien zurückgekehrt war und vor den Cafés auf dem zentralen Platz im Viertel stundenlang Gitarre spielte. An diesem Abend aber hatten sich die Leute aus einem anderen Grund hier versammelt. Es lag ein Geflüster in der Luft und ab und zu nickten die Leute in Richtung eines Mannes, der in der Tiefe des Cafés am letzten Fenster Platz genommen hatte. Selbst aus einiger Entfernung konnte man erkennen, dass sein Gesicht verbrannt war und er einen langen ungepflegten Bart trug. Er starrte die Tischplatte an, auf der nur eine Tasse stand, und blickte von Zeit zu Zeit auf seine rechte Handfläche, um die ein Stofffetzen gewickelt war. Der Kellner ging alle Viertelstunde zu ihm hinüber, sagte etwas und brachte ihm etwas zu trinken, bevor er ihn wieder allein ließ. Draußen vor dem Café saß die örtliche Friseurin mit einer Zeitung unter dem Arm, die sie manchmal aufblätterte und anstarrte, um sie dann wieder wegzulegen. Sie legte sie sich auf ihren dicken Bauch, ganz behutsam mit zwei Händen, gerade so als hantierte sie mit etwas sehr Wertvollem. Ihre Augen wurden noch größer als sonst, als sie sagte, sie sei sicher, der Mann da hinten sei ein gefährlicher Terrorist. Der WDR habe in den letzten Tagen immer über ihn berichtet. Tatsächlich war sein Foto im Fernsehen zu sehen gewesen, aber richtig kennen tat ihn keiner. Doch der bärtige Mann im Café kannte alle, die ihn jetzt verhohlen anstarrten, und er wusste sogar, dass die Friseurin nach dem Tod ihres Mannes im Bergwerk eine Affäre mit einem der anderen Bergarbeiter gehabt hatte. Der Trubel nahm ein Ende, als Michael und sein Freund, ebenfalls ein junger Mann, von der Demonstration zurück kamen und begeistert erzählten, wie sie Tomaten an die Fassade des Maritim Hotels geworfen hätten. Michael erzählte sogar, dass sie Lieder von Bob Marley gesungen hätten und seine Stimme über einen tragbaren Lautsprecher bis in die letzten Winkel des Versammlungssaals gedrungen sei. Im Zentrum hatte eine Klimaschutzkonferenz stattgefunden, an der Vertreter der wichtigsten Industrienationen teilgenommen hatten. Die jungen Leute hatten unter Polizeischutz vor dem Hotel demonstriert und gefordert, dass fossile Brennstoffe mit Sonnen- und Windenergie ersetzt werden. . Der Mann mit dem Bart war nicht mehr da, aber seine Tasse stand noch auf dem Tisch im Café.
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Manche Menschen sind so gut, dass man in der Erinnerung an sie lebt und lächelt, wenngleich man sie vermisst .
Über dem Wohl und Übel steht ein Feld. Auf diesem werden wir uns wiedersehen . 1
A tribute to beauty and wisdom
Sie lag auf dem Bett wie eine Wüste, über deren weichen Sand der Wind weht; sanfte, geschwungene Kurven. Ihr Kinn hatte sie auf ihre Hand gestützt. Sie sagte: „Weißt du, dass in dir vier Tiere stecken?“ Ich fragte: „Was soll das heißen?” Sie antwortete: „Gestern habe ich mit Hayat darüber gesprochen, welchen Tieren unser Charakter ähnelt.“
Sie drehte sich zur Seite. „Hayat zum Beispiel ist eine Eule.“ „Wegen ihrer Brille?“, fragte ich. Sie lachte laut auf. Dabei hatte ich es ernst gemeint: Ihre schlanke Freundin Hayat aus Marokko trug kreisrunde Brillengläser. „Nein, nein!“, sagte sie. „Ich sag‘ das deswegen, weil Eulen weise sind und alles wissen.“
Ich setzte mich zu ihr aufs Bett und begann, ihren Bauch und ihre Brüste mit den Fingerspitzen zu streicheln, wie eine sanfte Morgenbrise den Sand. „Aber du“, sagte sie, „du bist vier Tiere in einem. Als allererstes bist du eine Schildkröte.“
-Warum denn eine Schildkröte?
-Weil du den Kopf einziehst, wenn du traurig bist oder Probleme hast. Du kommst dann einfach nicht mehr heraus und bittest niemanden um Hilfe. Und solange dein Problem nicht gelöst ist, redest du auch nicht mehr.
Sie hatte recht. Ich hatte in meinem Leben noch nie jemanden um Hilfe gebeten. Selbst wenn ich irgendwo in der Fremde eine Adresse nicht finde, verlaufe ich mich lieber und irre solange umher, bis ich sie finde, als dass ich jemanden frage. Frauen mögen das nicht. Sie glauben, ich hätte nicht das Selbstbewusstsein, andere um Hilfe zu bitten. Ich sehe das genau umgekehrt: Wer ständig andere fragt, kann nur ein Schwachkopf sein.
Sie ergriff meine Hand, die auf ihrer Brust zu ruhen gekommen war, und führte sie langsam über ihre nackte Haut. „Du bist auch wie ein Adler, der durch die Lüfte fliegt und alles von ganz weit oben betrachtet. Die meisten Menschen sehen nur einen Ausschnitt, aber du hast den Überblick.“
Ich liebte es, wenn sie die Menschen so sezierte. Wie verdammt gut sie darin war, hatte ich gemerkt, als sie mir den Film „Caché“ auseinandergelegt hatte.
-Weißt du, was als nächstes kommt? Ein Vogel, den du magst: die Amsel!
Diesmal musste ich lachen: „Ernsthaft? Und wieso?“
-Du tust immer so geheimnisvoll. Deine Augen, deine Blicke, dein Verhalten ... da bleibt immer ein Rest, den man nicht versteht.
Sie meinte das nicht als Lob. So etwas hatten mir schon andere nachgesagt und es als Vorwurf, als charakterlichen Mangel gemeint. Ich hatte dann immer versucht zu erklären, dass ich nichts verstecke, sondern ganz im Gegenteil viel transparenter als andere Männer bin.
Meine Finger strichen wieder über die Höhen und Tiefen der weiten Ebene, die vor mir lag, als sie plötzlich nach meiner Hand griff, mir tief in die Augen schaute und sagte: „Weißt du, welches das vierte Tier ist?“
-Nein.
-Ein Stier, sagte sie auf Deutsch.
-Ein was?
Ich wollte das Wort im Handy nachschlagen, aber sie legte sich die Hände mit ausgestreckten Zeigefingern an die Stirn und ich verstand. „Du bist ein spanischer Kampfstier!“ Dann sprang sie auf und stieß mich rücklings aufs Bett. Sie setzte nach, jetzt ganz Torera, und ließ ihr Gewicht auf meine Oberschenkel sinken. Ihre dunkelbraunen Haare waren ihr ins Gesicht gerutscht und verdeckten ihr eines Auge. „Das kann aber nur wissen, wer mit dir ins Bett gegangen ist“, lachte sie.
Mit einem Mal war sie zur Löwin geworden, genau das, was ich jetzt brauchte: eine wilde Löwin. Sie beugte sich über mich, ließ mir ihre Haare ins Gesicht und über den Hals fallen und versenkte ihre Zähne in meinem Bizeps.
1 Somewhere beyond the right and wrong, there is spacious garden. We will meet us there. Rumi (Jalaludin Balkhi)
Es war noch dunkel. Der Zug fuhr unaufhaltsam ins Büro. Ich hatte gleich am dritten Tag erkannt, dass das kein Ort für mich war, aber inzwischen arbeitete ich schon im fünften Jahr hier und schlug mich mit den Leuten herum.
Wie immer am Wochenende war ich auch diesmal leise neben ihr aufgestanden, hatte geduscht und mich angezogen. Als ich los musste, hatte ich behutsam ihr Gesicht geküsst, sie hatte die Augen geöffnet und mit einem sanften Lächeln geflüstert: „Ich wünsch‘ dir einen schönen Tag.“ Dann hatte sie mich zärtlich geküsst.
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