Nicht nur Blick , dieses Mal berichten auch alle anderen Zeitungen atemlos. Es ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Hauert ist acht Jahre zuvor wegen zweifachen Mordes, zehn Vergewaltigungen und mehreren Raubüberfällen zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Trotzdem darf er alleine seinen Therapeuten aufsuchen. Bei einem dieser Freigänge kauft er sich Klebeband und ein Messer. Er geht in den Wald, der nicht weit von der Praxis seines Therapeuten liegt. Es ist der Wald von Zollikerberg, einem Dorf zwischen Zürichsee und Greifensee. Dort gibt es keinen Berg, der Zollikerberg heißt, aber eben diesen Wald. Pasquale Brumann durchquert ihn und wird zu Hauerts Opfer, zufällig; es hätte auch eine andere Frau treffen können.
Die Leute sind schockiert. In Leserbriefspalten wird die Todesstrafe gefordert. Doch der Zorn richtet sich vor allem gegen die, die zugelassen haben, dass Hauert sich frei bewegen durfte.
»Es war ein Psychiatriemord! Nie können Triebtäter als geheilt bezeichnet werden. Hafturlaub für Schwerstverbrecher – wir alle waren ahnungslos. Aber das in den Augen der Spezialisten dumme Volk darf ja betrogen werden. Unsere Meinung interessiert keinen. Wie lange noch?«, schreibt R. S. aus Zürich.
»An die Herren Psychiater, Therapeuten, Psychologen, Sozialhelfer: Bald könnt ihr euren Schützling wieder in die Arme schließen, ihn trösten, ihm gut zureden, Verständnis zeigen, und er kann guten Mutes sein, nach ein paar Jährchen das Gefängnis wieder verlassen zu dürfen. Was, wenn eure Kinder Opfer von Gewalt würden?«, schreibt R. D. aus Winterthur.
»Empörend! Schon wieder wurde einem Schwerverbrecher Urlaub gewährt, der ja eigentlich nach zwei Morden und 10 Vergewaltigungen eher an den Galgen gehörte. Herr Leuenberger, wenn Sie nur einen Funken Mitgefühl für die schwergeprüfte Familie Brumann haben, übernehmen Sie die politische Verantwortung und treten Sie zurück.« schreibt W. B. aus Richterswil ZH.
Drei Jahre später findet der Prozess statt. Es ist mehr als ein Prozess gegen einen Mörder. Es ist auch ein Prozess gegen die Justiz. Schon Mitte der achtziger Jahre war Hauert begutachtet worden. Der Psychiater schreibt, Hauert habe einen »starken Drang zur aggressiven Bemächtigung der Umwelt«. Tötungsfantasien und eine zu geringe Ich-Stärke zu ihrer Abwehr ergäben eine unheilvolle Kombination. »In solchen Perioden ist die Gefahr groß, dass die aggressiven Strebungen und möglicherweise auch Größenfantasien ins Verhalten durchschlagen.«
Hauert hat alle Frauen nach einem ähnlichen Muster umgebracht: Einstiche im Rücken, Schnitte am Hals, bis zum Durchschneiden der Kehle. Eine 19-jährige Radfahrerin holte er bei Solothurn vom Rad, quälte sie, schlug sie mit einer Stahlrute, bis sie sich nicht mehr regte. Dass sie überlebte, war ein Wunder. Die Taten gleichen denen eines Serienkillers, die immer brutaler werden. Die Leute mögen solche Geschichten, wenn sie im Fernsehen kommen. Nur ist es dieses Mal real.
Erich wird 1959 als unerwünschtes Kind in Basel geboren. Der Vater ist Alkoholiker und erschießt sich, als der Junge elf Jahre alt ist. Seine Mutter arbeitet als Serviertochter und hat kaum Zeit, sich um ihren Sohn zu kümmern. Erich bekommt einen Vormund, wird zuerst in einer Pflegefamilie und später in Heimen untergebracht. In der Pflegefamilie wird er täglich mit dem Teppichklopfer misshandelt. Im Kinderheim gibt es Stockschläge. Als Erich einmal erwischt wird, wie er Brotreste im Klo entsorgen will, wird er gezwungen, das Brot herauszufischen und aufzuessen.
Erich macht bei Migros eine Lehre. Er absolviert die Rekrutenschule und wäre Unteroffizier geworden, wenn er nicht bei einem bewaffneten Raubüberfall erwischt worden wäre. Er lebt als Einzelgänger, hält Frauen für hochnäsig und berechnend.
Als er nach den beiden ersten Tötungsdelikten begutachtet wird, sagt er, die beiden Frauen seien an ihrem Tod mitschuldig gewesen, weil sie sich übertrieben gewehrt hätten. Er hält die beiden Tötungen für »Schicksal«, »Pech«, »unglückliche Umstände«.
Egal wie schlimm seine Kindheit war, Hauert gehört zu den Menschen, die man nie mehr in Freiheit sehen möchte. Ein grausamer Mensch, der mit allergrößter Wahrscheinlichkeit mit keiner Therapie zu entschärfen wäre.
Das Zürcher Obergericht verurteilte ihn im September 1996 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe und schiebt die Strafe zugunsten einer Verwahrung auf unbestimmte Zeit auf. Hauerts Verteidiger hatte wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit eine Strafe von nur fünfzehn Jahren beantragt. Allerdings fand auch er, Hauert müsse auf unbestimmte Zeit verwahrt werden. Der Verteidiger fügte an: Dieser Antrag ergehe mit dem Einverständnis seines Mandanten, Hauert habe das Sicherungsbedürfnis der Öffentlichkeit anerkannt. Er wird nie mehr freikommen.
Vom ersten Tag nach dem Mord steht der monumentale Vorwurf im Raum: Wie konnte das passieren?
In der Verantwortung ist Moritz Leuenberger. Seine Karriere beginnt als Anwalt in Zürich. Zwanzig Jahre lang hat er in der Langstrasse ein Büro. Viele Jahre sitzt er im Nationalrat. 1991 wird er in die Zürcher Regierung gewählt. Bei Hauerts Hafturlaub ist er der zuständige Justizdirektor. Er müsste die Frage beantworten können, wie der Mord passieren konnte. Vier Jahre später wurde der Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt und stand fünfzehn Jahre lange dem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation vor.
Wir verabreden uns im Bistro des Bernhard Theaters, das gleich neben dem Zürcher Opernhaus liegt. Es regnet wie verrückt. Moritz Leuenberger kommt herein, sein Regenmantel klatschnass, zwei schwere Taschen in den Händen. Material für eine Sitzung, die er nachher hier noch haben wird. Das Bernhard Theater ist seine neue Wirkungsstätte. Regelmäßig veranstaltet er im Theater Sonntagmatinées und unterhält sich mit Gästen – Schriftstellerinnen, Filmemachern, der Miss Schweiz oder Politikern. Er sagt, er sei jetzt unter die Entertainer gegangen und lacht. Es gehe in den Matinées nicht um Politik, mehr witzig, vergnügt und unterhaltsam sollen sie sein. Der Mann scheint nicht zu altern. Schmales Gesicht, schlank und dasselbe skeptische Lächeln wie früher.
Wie war das im Oktober 1993? Wann hatte er das erste Mal von dem Mordfall gehört?
Leuenberger bestellt sich heißes Wasser mit Zitrone. Er habe in der Zeitung über den Mord gelesen; daran könne er sich gut erinnern. »Die schreckliche Tat passierte ja in unmittelbarer Nähe. Aber ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, dass ich später etwas damit zu tun bekommen könnte.«
Erst Tage später begriff er, dass er in einen Mediensturm katapultiert worden war. Er weiß nicht mehr genau, an welchem Tag es exakt war, aber der Regierungsrat war auf einem Ausflug. Dort erfuhr er, dass die Tat von einem Rückfalltäter auf Urlaub begangen worden war. Als er nach Hause kam, stand ein Journalist vor seiner Haustüre. Er wollte ein Interview. Leuenberger verweigerte es; das sei ihm später vorgeworfen worden. »Ich stand in jenem Moment nicht über der Sache, insofern habe ich nicht adäquat reagiert. Aber es hat mich auch mitgenommen, ich war paralysiert. Das gibt es halt.«
Noch am selben Abend stellte sich Leuenberger den Medien. Er beantwortete die Fragen, soweit er das überhaupt konnte. Als erste Maßnahme erließ er für sämtliche Gewalt- und Sexualtäter eine Urlaubssperre. »Diese Urlaubssperre war gesetzeswidrig. Das war mir damals bewusst«, sagt er. »Die Emotionen sind aber dermaßen hoch gegangen, dass ich das gegeneinander abgewogen habe. Und interessanterweise hat es keinen einzigen Rekurs gegeben. Sogar die Häftlinge haben es irgendwie als politische Maßnahme akzeptiert. Aber ich weiß, es war eine populistische Reaktion.« Später setzte er eine Kommission ein, die sämtliche Urlaubsgesuche beurteilen musste.
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