Die Gerichte stützen sich vor allem auf die früheren Aussagen der beiden Stiefsöhne. Sie widerrufen. Der eine nach zwei, der andere nach drei Jahren. Das Obergericht hält die beiden Widerrufe für nicht glaubwürdig.
»Es sei eine frustrierende Erfahrung, sagt der 37-jährige Familienvater heute, dass man ihm einfach nicht glaube; dass man nicht wahrhaben wolle, unter welch enormem Druck er und sein Bruder damals gestanden hätten, als sie den Stiefvater wider besseren Wissens belastet hätten. ›Mein Anwalt hat mir vom Widerruf abgeraten‹, sagt der Mann, ›doch ich musste es einfach tun. Warum so spät? Ich war erwachsen geworden, erst dann hatte ich die Kraft und den Mut dazu. Ich nahm auch in Kauf, wegen Falschanschuldigung verurteilt und bestraft zu werden. Umsonst.‹« Damit endet der NZZ-Text.
Der Artikel stammt von Brigitte Hürlimann. Sie ist Juristin und eine renommierte Gerichtsberichterstatterin. Ihre Recherche hat aber nichts bewirkt; das Bundesgericht wies die Revision ab. Meier hofft weiter, dass sein Fall neu aufgerollt wird.
Beat Meier ist heute weit über siebzig Jahre alt. In einem Brief schildert er sein Leben als Verwahrter:
»Alltag: Kaum mehr Selbstverantwortung, alles ist geregelt. Aufstehen um 7. Frühstück: Kaffee oder Tee. Butter, Konfi + Brot vom Vortag. Mittagessen um 11:45. Abendessen um 16:45. Einschluss zirka 19:35 (Wochenende zirka 16:35). Hofgangzeit: Mo/Di/Do/Fr 12:15 bis 13:30, Mi 14 bis 16:30, abends zirka 17 bis 19:30, Wochenende zirka 8 bis 11:30 oder 13 bis zirka 16 Uhr. Donnerstag früh Einkauf vom fixen Kioskangebot, relativ gute Auswahl, aber sehr selten einzelne Alternativen, Hygieneartikel nur vom Kiosk. Bett- und Kleiderwäsche werden für einen wöchentlich erledigt, Putzlappen, Reinigungsutensilien stehen frei zur Verfügung.
Besuch: Unter acht Jahren Haftzeit: eine Stunde pro Woche. Über acht Jahren: sieben Stunden pro Monat.
Telefonieren: zirka 160 Minuten. Wer häufig kurze Gespräche führt und/oder lange klingeln lassen muss und womöglich niemanden erreicht, hat entsprechend deutlich weniger monatliche Sprechzeit. Anwalts- und gewisse behördliche Gespräche sind davon nicht betroffen.
In jedem Fall begrenzt auf max. 100 Franken Gebühren pro Monat. Gefangene mit Kontakten einzig in ihre ferne Heimat (Afrika, Asien, Südamerika) sind massiv benachteiligt. Ein junger Taubstummer hier kann natürlich nie telefonieren. Alternativen wie etwa Mail oder Bildtelefon werden ihm auch nicht angeboten. Nach 10 Minuten Gespräch ist die Karte jeweils für eine Stunde gesperrt.
Es gibt einen Apparat für dreißig Gefangene. Gespräche bleiben sechs Monate lang aufgezeichnet und können überwacht werden.«
Mit 65 Jahren, also im AHV-Alter, wollte Beat Meier im Gefängnis nicht mehr arbeiten, weil er der Ansicht war, er habe mit seinem Verein Fair-wahrt? genug Arbeit. Meier prozessierte. Die Gerichte argumentierten, die Arbeit im Gefängnis verhindere, dass Haftschäden aufträten. Meier zog den Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiter. Auch dort hatte er keinen Erfolg.
Darum ging es in meinem Zeitungsartikel. Meier sollte seine Zitate gegenlesen können, bevor der Text erscheint. Es eilte, der Redaktionsschluss rückte näher. Meier hatte versucht, auf der Redaktion anzurufen, erreichte mich aber nicht. Übers Handy rief ich im Gefängnis an. Die Frau am Empfang war freundlich und verband mich mit Meiers Abteilung. Ein Aufseher nahm ab: »Ich sage nichts.« Ich erklärte ihm, Herr Meier habe mich gebeten, zurückzurufen. Was hiermit geschehe.
»Aber Sie rufen von einem Handy an.«
»Ja und?«
»Dann kann ich Sie nicht verbinden. Es sei denn, Sie können mir den Vertrag mit dem Handyanbieter faxen, damit wir verifizieren können, dass Sie die Besitzerin dieses Handys sind. Ist ein bisschen kompliziert, ich weiß. Aber sonst geht es nur über die Redaktionsnummer.«
Also bat ich, er solle Meier ausrichten, dass ich am nächsten Morgen auf der Reaktion zu erreichen sei.
Kurz nach 9 Uhr rief Meier an. Er sagte, er habe nur zehn Minuten.
Wir preschten durch den Text. Nach neun Minuten begann es in der Leitung zu piepen.
In einer Stunde habe er nochmals zehn Minuten verfügbar. Prompt rief er nach einer Stunde nochmals an, aufgeregt. Er könne sonst für den Rest des Monats mit niemandem mehr telefonieren.
Einen Tag später rief ich erneut von der Redaktion aus an.
Das Spiel ging von vorne los. Die Frau in der Zentrale wollte mich nicht in die Abteilung durchstellen. Ich bat darum, zumindest Herrn Meier auszurichten, dass ich angerufen hätte. »Nein, das machen wir nicht.«
In einem Brief schreibt er: »Was mir am meisten fehlt: Freiheit natürlich. Die Natur, Kontakt zu Bezugspersonen, Freunden, die über die geregelten Besuchsstunden, Telefonate, Briefverkehr hinausgehen. Und jede Nacht fehlt mir eine von innen verriegelbare Zellentür, und damit das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Es fehlt mir seit einem Vierteljahrhundert ein Abend, an dem ich nicht in eine Betonzelle eingesperrt werde und endlich nicht mehr gegen das kaum je völlig verschwindende, obskure unterschwellige Gefühl ankämpfen muss, es könnte mir in dieser Lage etwas passieren, dem ich völlig wehrlos ausgesetzt wäre, dem ich nicht entrinnen könnte.«
3Der Mord am Zollikerberg
Es ist der 30. Oktober 1993, ein Samstag. In Bosnien herrscht Krieg. In Sarajewo wird geschossen, mindestens zwanzig Menschen sterben dort an diesem Tag. Die baskische Untergrundorganisation ETA lässt eine Geisel frei. In der Schweiz trifft sich die CVP zur Delegiertenversammlung. Das Thema ist die innere Sicherheit. Der damalige Justizminister Arnold Koller listet auf, was sein Departement alles geplant hat, von neuen Strafnormen gegen das organisierte Verbrechen bis zu den sogenannten Zwangsmaßnahmen gegen Ausländer. Er sagt, das verbreitete Gefühl der Unsicherheit könne nicht allein auf die Kriminalität zurückgeführt werden, sondern müsse andere Ursachen haben. Im letzten Jahr sei die Gesamtkriminalität gesunken. »Die Gefahr, auf der Straße zu verunglücken oder gar überfallen zu werden, ist wesentlich kleiner, als im eigenen Haushalt zu verunglücken«, sagt der CVP-Bundesrat.
An diesem Tag geschieht ein Mord, der die Schweiz verändern wird. »ZOLLIKERBERG ZH. Die 20-jährige Pfadiführerin Pasquale Brumann ist am Samstag in einem Waldstück in der Nähe ihres Wohnortes von einem unbekannten Täter umgebracht worden. Die angehende Krankenschwester hätte am Samstag um 13 Uhr bei ihrer Pfadigruppe sein sollen – erschien jedoch nicht beim Treffpunkt Allmend-Zollikon. Die Polizei suchte bereits am Samstag das Gelände mit Hunden ab, gestern halfen Pfadfinder. Gegen 15 Uhr wurde die junge Frau gefunden – verscharrt im losen Waldboden«, schreibt Blick am Montag, dem 1. November.
Die Boulevardzeitung setzt eine Gruppe von Reportern auf den Fall an. Einige Tage später berichten sie: »Der sonnige Samstag sollte für die angehende Krankenschwester und begeisterte Pfadiführerin Pasquale Brumann ein besonderer Freudentag werden: In den letzten Monaten hatte sie rund ein Dutzend Pfadis zu Führern ausgebildet und wollte ihnen an einer kleinen Feier die Urkunden überreichen. Fröhlich marschierte sie durch den lichtdurchfluteten Herbstwald. Zwischen 12.45 Uhr und 13 Uhr muss Pasquale ihrem Mörder begegnet sein. Der hat sie auf bestialische Weise umgebracht. Die nackte, misshandelte, stark verschmutzte Leiche wurde von den Suchtrupps der Polizei am Sonntag gefunden. Verscharrt unter einem Baumstrunk. […] Zu den Hinweisen, dass der jungen Pfadiführerin die Kehle durchtrennt worden ist, wollte Polizeisprecher Markus Atzenweiler noch keine Stellung nehmen, schloss ein Sexualdelikt auch nicht aus.«
Eine Woche nach der Tat folgt das Geständnis. Es war ein Häftling auf Freigang. Blick schreibt: »Der zweifache Frauenmörder Erich Hauert (34) gestand gestern, Pasquale Brumann (20) mit einem Messer getötet zu haben. Als ob nichts geschehen wäre, war der Sex-Killer Erich Hauert am Sonntagabend nach seinem Hafturlaub wieder in die Strafanstalt Regensdorf zurückgekehrt. Ein Mithäftling zu Blick: ›Aber er trug andere Kleider und hatte Kratzspuren. Das fiel nach Bekanntwerden des Mordes auf.‹ Für die Tatzeit hatte Hauert kein Alibi. Am Tatort soll ein Schuhabdruck gefunden worden sein, der auf Hauerts Größe passt. Weiter wurden Spuren von Sperma auf dem nackten Körper der jungen Frau gefunden.«
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