Das gelungene evolutionäre Experiment der Erschaffung einer Spezies, die über einen Verstand verfügt und zur Vernunft befähigt ist, wirft viele Fragen auf. Erstmals in der langen evolutionären Geschichte des Lebens auf der Erde könnte ein Kind der Evolution auf den Gedanken kommen, seiner Schöpferin ins „Handwerk“ zu pfuschen und die weitere evolutionäre Entwicklung mitbestimmen zu wollen. Sollte man diesen Gedanken als eine schöpferische Posse abtun, eine evolutionäre Panne betrachten oder als einen Geniestreich in einem mehr oder minder zwangsläufigen Prozess verstehen? Wie auch immer man diese Frage beantworten mag, die Entstehung einer zur Selbsterkenntnis und zum höheren Denken befähigten Art eröffnete ein neues evolutionäres Szenario. Die Evolution hat damit Abläufe in Gang gesetzt, die nicht mehr allein ihren Regeln und Gesetzen unterliegen.
Seit etwa 100.000 Jahren wird die biologische Evolution der Homininen durch eine Entwicklung überlagert, die zunehmend an Dynamik gewinnt. Es handelt sich um die soziokulturelle Evolution der menschlichen Gesellschaft. Anfänglich war diese Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung noch unbedeutend, doch in den letzten 10.000 Jahren hat sie sich zu der bestimmenden Komponente in der Entwicklung der Menschheit entwickelt. Die biologische Evolution der Gattung homo sapiens ist jedoch keineswegs beendet, denn sie setzt sich nach wie vor fort. Allerdings wirken ihre Mechanismen in einer Zeitskala von einigen Zehntausend bis Hunderttausend Jahren. Die soziokulturelle Evolution vollzieht sich dagegen in Jahrzehnten oder Jahrhunderten und scheint sich weiter zu beschleunigen. Damit läuft dieser evolutionäre Prozess etwa drei Größenordnungen schneller ab als biologische Anpassungen. Insofern tritt die biologische Optimierung der Art in einem überschaubaren Zeitmaßstab hinter die weitere Ausgestaltung gesellschaftlicher und zivilisatorischer Prozesse zurück. Für die evolutionäre Entwicklung der Menschheit ist es nicht wichtig, was der Art in einer Million Jahren widerfahren könnte. Für die Weiterentwicklung und das Fortbestehen der Kultur der Art homo sapiens sapiens sollten vielmehr die nächsten 5.000 bis 10.000 Jahre entscheidend sein. Wohin aber könnte die soziokulturelle Evolution die Menschheit führen? Freilich lassen sich dazu nur Spekulationen anstellen. Seriöse Prognosen sind bekanntermaßen, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen, schwierig. Diese frappierende Erkenntnis eines Witzboldes wird Mark Twain oder Karl Valentin zugeschrieben. Sie sollte einen Visionär eigentlich davon abhalten, sich darin zu versuchen. Doch ohne sich in Details verlieren zu wollen, scheinen aus heutiger Sicht wohl drei grundsätzliche Szenarien denkbar zu sein. Dabei tut es nichts zur Sache, dass diese gedanklichen Ansätze einem Science-Fiction-Roman entsprungen sein könnten.
Szenario 1 (eine Endzeit-Version)
Auf der Erde findet eine weitgehend irreversible Zerstörung der Biosphäre mit katastrophalen Folgen für die globale Umwelt und die Lebensqualität der Menschen statt. Darüber hinaus haben sich die wichtigsten irdischen Ressourcen durch Raubbau total erschöpft und sind zu zivilisatorischen Streitobjekten geworden. Diese Prozesse lösen gesellschaftliche Konflikte aus, in deren Folge es zu einer verheerenden globalen Auslöschung von Leben, der Vernichtung zivilisatorischer Errungenschaften sowie einer Zerstörung der Umwelt, einschließlich der Atmosphäre, kommt.
Für eine weltweite Vernichtungsorgie von höherem Leben kommen auch kosmische Ursachen wie ein kolossales Impakt-Ereignis mit einem großen Asteroiden, eine nahe Supernova oder ein Treffer durch einen verheerenden Gamma-Blitz infrage. Schließlich ist auch eine apokalyptische Pandemie als Auslöser für einen drastischen Niedergang der menschlichen Zivilisation denkbar.
Wenn die Gattung homo sapiens diese evolutionäre Zäsur biologisch überstehen sollte, könnten sich archaisch anmutende, nachzivilisatorische Kulturen entwickeln. Sie werden über keine Hochtechnologien verfügen, keine nennenswerte wissenschaftliche Forschung betreiben und geistig-kulturell wohl überwiegend im Dunkel fatalistischer Religiosität versinken. In diesem „Endzeit-Szenario“ wird die soziokulturelle Evolution der Menschen auf einem sehr niedrigen Niveau verharren, wobei praktisch keine oder nur sehr ungewisse Perspektiven für einen erneuten soziokulturellen Aufschwung des homo sapiens bestehen. Das Risiko des Aussterbens der Art infolge von Krankheiten, Seuchen, Nahrungsmangel und abnehmender Fertilität dürfte in diesem Endzeit-Szenario beträchtlich sein. Angesichts der ausweglos erscheinenden zivilisatorischen Situation könnte die biologische Evolution über kurz oder lang wieder das Geschehen in einer sich vielleicht langsam erholenden Biosphäre des Planeten bestimmen. Wahrscheinlich wird sie dann, wie sie es auch früher schon nach anderen Massensterben auf der Erde getan hat, einen evolutionären Neustart des biologischen Lebens beginnen.
Szenario 2 (Variante „lichte Zukunft“)
Die Menschen können die soziokulturelle Evolution so steuern, dass die globalen Disproportionen in Bezug auf die Verteilung der Ressourcen (vor allem Wasser, Rohstoffe, fruchtbare Böden, Nahrungsquellen) verantwortungsbewusst und ökologisch vertretbar auf ein Maß allgemeiner Akzeptanz eingeschränkt werden. Darüber hinaus gelingt es durch einen fairen Handel sowie durch Transfer- und Ausgleichsmaßnahmen, weltweit annähernd gleiche Lebensverhältnisse herzustellen. Voraussetzung für das Gelingen einer solchen globalen Interessenübereinkunft ist jedoch die wirksame Begrenzung des ungehemmten Bevölkerungswachstums. Die demografische Fehlentwicklung ist nämlich die Hauptursache für die meisten zivilisatorisch bedingten und verursachten Übel (z. B. Raubbau, Massentierhaltung, Überfischung, Umweltverschmutzung, fehlende klimaneutrale Energieversorgung usw.). Neben der Abwendung der demografischen Katastrophe kann auch die soziale Frage (Gegensatz zwischen arm und reich) vom Grundsatz her gelöst werden.
Die technologische und wissenschaftliche Entwicklung schreitet weiter voran. Es wird zunehmend qualifizierte Raumfahrt betrieben, die auch den Abbau von Rohstoffen auf dem Mond oder nahen Asteroiden ermöglicht. Vielleicht lässt sich die ökologische Situation auf der Erde weiter wirksam entspannen, wenn durch eine Art Terraforming die Kolonisierung des Planeten Mars ermöglicht werden kann. In diesem Zukunftsszenario sollte die soziokulturelle Evolution trotz einer gewissen Bandbreite von verbleibenden gesellschaftlichen Konflikten vielleicht zu einer gesicherten Perspektive der menschlichen Zivilisation führen.
Szenario 3 (eine vermutlich realistische Version)
Es findet zwar keine dramatische, jedoch eine schleichende Zerstörung der Biosphäre des Planeten statt. Darüber hinaus gelingt es auch nicht, die soziokulturelle Evolution so zu steuern, dass die weltweiten gesellschaftlichen und zivilisatorischen Gradienten und Spannungen auf ein akzeptables Niveau abgebaut und grundlegende ökologische Probleme gelöst werden. Die Welt zerfällt in arme, reiche und aufstrebende Regionen, die sich mehr oder minder konfrontativ gegenüberstehen. Streitobjekte sind vor allem die noch verfügbaren Ressourcen (vor allem Energie, Wasser, Bodenschätze, Nahrungsquellen). Dabei kommt es vermutlich zu einer gesellschaftlichen Abschottung zwischen den unterschiedlichen Regionen, die durch historische, religiöse, kulturelle und anderweitige zivilisatorische Gründe begünstigt und beeinflusst wird. Die spannungsgeladene globale gesellschaftliche Situation könnte durch weltweiten Terrorismus, global organisierte Kriminalität und permanente unkalkulierbare Migrationsströme weiter destabilisiert werden.
Hochtechnologien, Wissenschaft und Raumfahrt dienen vor allem der Privilegierung bestimmter Schichten und Kulturkreise in den reichen Regionen und nicht der Lösung der weltweiten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme. Die soziokulturelle Evolution dürfte dabei eine weite Auffächerung oder Aufspaltung zeigen. Bei dieser Entwicklung wird es zwangsläufig Gewinner und Verlierer geben. Die gegenwärtige globale Situation der menschlichen Gesellschaft scheint in manchen Aspekten den Anfängen eines solchen Szenarios zu entsprechen. Die skizzierte soziokulturelle Entwicklung wird letztlich global zu einem instabilen gesellschaftspolitischen Zustand führen. Der fragile zivilisatorische Status quo mit seinen vielfältigen gesellschaftlichen Spannungen und Disproportionen dürfte irgendwann in einer dramatischen Situation enden und zu einer radikalen Umgestaltung führen.
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