Möge allzeit eine weise Fee über sein Schicksal wachen und seine künftigen Lebenswege mit einem gütigen Zauber begleiten!
Das raumzeitliche Dilemma der Generationen (n) und (n+2)
Das temporale Spannungsfeld zwischen Großeltern und Enkelkindern resultiert aus der Verschiedenheit der vierten raumzeitlichen Koordinate bei deren jeweiligen Eintritt in das Kontinuum der Zeit. In der Regel trennt die beiden Generationen eine zeitliche Barriere von mindestens einem halben Jahrhundert. Dazu kommt, dass sie – wie alle Menschen – in einem identischen Inertialsystem gefangen sind, in dem man ohne Zeitmaschinen dem gleichförmigen Verrinnen der Zeit nicht entkommen kann. In so einer deterministisch bestimmten Welt lassen sich temporale Differenzen nicht nivellieren, verkürzen oder durch Zeitdehnung beeinflussen – auch nicht vorübergehend.
Das Szenario muss man als naturgegeben begreifen, denn ohne das Dasein von Eltern und deren Kindern können in der Ereignisabfolge, die von der Richtung des thermodynamischen Zeitpfeils vorgegeben wird, auch keine Kindeskinder das Licht der Welt erblicken. Daher scheinen Großeltern aus der Sicht von Enkelkindern stets als ziemlich alte Leute in deren Leben zu treten und es viel zu früh, oft in einem gebrechlichen Zustand, verlassen zu müssen. Das temporale Dilemma der Generationen (n) und (n+2) mag man beklagen, doch es sollte nicht als ein Fluch verstanden werden. Es speist sich aus dem Wesen des unaufhaltsamen Verrinnens der Zeit und scheint damit in der raumzeitlichen Welt des Standarduniversums unabänderlich zu sein.
Die in den 17 Briefen an den Enkelsohn geäußerten Gedanken und Gefühle möchten dazu beitragen, dass der Generation von übermorgen die Bewahrung eines liebevollen und lebendigen Andenkens an die Großeltern zu einem seelischen Bedürfnis werden mag. Vielleicht könnte durch die Magie der Erinnerung auch die gedankliche und emotionale Welt der Enkel in einer noch ungewissen Zukunft einen zauberhaften Moment lang erhellt werden – und sei es auch nur für die Dauer einer Septilliarde (1045) Plancksekunden lang. Die vielfach bedrohte Welt von morgen würde dadurch keinen Schaden nehmen. Im Gegenteil: Wer vermag schon zu sagen, ob die Enkelkinder der Enkelkinder heutiger Großeltern (sozusagen die Generation (n + 4)) eines fernen Tages eine freudvolle und lichte Zukunft auf unserem Planeten erleben werden?
Enkelkinder, Enkelzeit
Enkelkinder gehören allein dem Leben
und dessen Sehnsucht nach sich selbst.
Du kannst auf Dauer ihnen keine Heimstatt geben,
auch wenn du dich für ihren Mentor hältst.
Du träumst dich in ihre ferne Zukunft-Welt
und möchtest sie verstehen – um ihretwillen!
Doch da die Zeit den Wunsch gefangen hält,
wird sich dein Traum niemals erfüllen.
Wenn deine Jahre nach und nach vergehen
und Enkel wie kleine Wunder wachsen und erblühen,
dann wirst du das Wort Abschied erst verstehen
begrenzt doch Lebenszeit all dein Bemühen
Enkel bringen Erinnerungen und Träume dir zurück,
sie geben dem Lebensabend die Vollkommenheit.
Sie sind wie Liebe, Schönheit, Jugend oder Glück
Geschenke des Lebens! Ja – aber nur auf Zeit.
Lebenszeit kann man nicht kaufen oder borgen
und auch die gnadenlose Zeit hält niemals an.
Die Enkel wohnen in der Welt von morgen,
die man als Oma und Opa nicht besuchen kann.
Ach, Enkelkinder und du wunderbare Enkelzeit,
nicht jedem Menschen sind sie wohl gegeben,
doch ohne sie bedeutet Alter Einsamkeit
und unerfüllte Sehnsucht nach dem Leben.
1. Brief vom 26. Juli 2019
Anlage
Leben – eine privilegierte Architektur der Natur, Mythos, Zauber, Wege und Wirken der irdischen Evolution
Leipzig, 26. Juli 2019,
zu öffnen am 26. Juli 2038
Mein lieber Enkelsohn,
heute, das heißt, wenn du diesen Brief aus meiner zeitlichen Perspektive in der Zukunft öffnest, werden Oma Steffi und deine ältere Cousine Elisa Geburtstag feiern. Deine Großmutter könnte an diesem Tag, falls sie noch auf der Welt weilen sollte, stolze 86 Jahre alt werden. Die Enkeltochter Elisa dürfte dann mit ihren 34 Jahren längst zu einer attraktiven selbstbewussten jungen Frau erblüht sein. Als ihr Großvater bin ich zuversichtlich, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihr Leben in den Griff bekommen haben wird. Doch diese familiären Dinge möchte ich nur am Rande erwähnen. Das Anliegen meines Briefes betrifft ein Thema, das ich mit dir gern persönlich besprochen hätte.
Junge, ich weiß nicht, wie du in 19 Jahren mental ticken könntest und ob du dir dann noch ein paar lebendige Erinnerungen an deinen Opa bewahrt haben wirst. Welche Dinge mögen dich im Alter von 22 Jahren bewegen, wofür wird dein Herz brennen oder schlagen und was magst du für ein Mensch geworden sein? Trotz mancher Unwägbarkeiten wage ich es, diese Zeilen an dich zu schreiben, denn ich möchte dir als ein kleines intellektuelles Vermächtnis eine Betrachtung zum Werden und Vergehen unserer Welt zukommen lassen. Freilich könnte es sein, dass du auf solche Gedanken keinen Wert legst. Möglicherweise favorisierst du sportliche, naturorientierte, musikalisch bestimmte oder sonstige ubiquitäre Lebensinhalte? Vielleicht aber lebst du gedanklich auch vorzugsweise in den oft bildungsferneren Welten sozialer Medien?
Mir ist bewusst, dass ich der Spezies eines analogen Bildungsbürgers zuzuordnen bin. Diese menschliche Unterart ist im digitalen Zeitalter massiv vom Aussterben bedroht. Je nachdem, wie man geistig und intellektuell aufgestellt ist, mag man das nun für überfällig halten, lediglich mit den Schultern zucken oder eventuell auch ein bisschen bedauern. Es kann sein, dass die soziokulturelle Evolution für diese bedrohte archaische Unterart des zivilisierten Menschen ein paar gesellschaftliche Nischen findet. Dort könnten diese Geschöpfe dem als unerbittlich geltenden digitalen Zeitgeist vielleicht noch eine Weile die Stirn bieten. Aussterben an sich muss aber nicht als Schande empfunden werden. So ein Pech kann schließlich jede Spezies ereilen. Meistens wirft man den Vertretern ausgestorbener Arten vor, unflexibel und reformunwillig zu sein sowie wenig innovativ auf Veränderungen zu reagieren. Nun ja, das mag stimmen oder auch nicht richtig sein, denn die Beurteilung eines derart komplexen Sachverhaltes resultiert aus der Perspektive oder dem Blickwinkel im Auge des Betrachters.
Bei dem Gedanken an den vom Aussterben bedrohten analogen Bildungsbürger fallen mir die Dinosaurier ein. Diese faszinierende Tiergruppe ist ja am Ende des Mesozoikums bedauerlicherweise ausgestorben. Ob das nun verschuldet oder unverschuldet passiert ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Doch ungeachtet ihres tragischen evolutionären Schicksals leben die Dinosaurier und die untergegangene biologische Wunderwelt des Erdmittelalters in den Köpfen und Herzen der Menschen fort. Ich finde, dass diese Tatsache für ausgestorbene Individuen schon eine bemerkenswerte Leistung darstellt. Warum also sollte dein Großvater mit seinen antiquierten intellektuellen Überzeugungen und als überholt geltenden analogen Ansichten nicht auch so einen Status in deinen Erinnerungen erlangen können? Ich hoffe, dass eines Tages die Zeit dafür kommen wird und dich zu entsprechenden Einsichten und Erkenntnissen bringen könnte.
Mein Junge, dieser Brief hat einen Hintergedanken oder nennen wir die Angelegenheit, besser gesagt, Botschaft. Er soll dich für Ereignisse auf unserem Planeten sensibilisieren, die vor langer Zeit stattgefunden haben, also längst zur Geschichte geworden sind. Wissen um geschichtliche Vorgänge und ein Nachdenken darüber sind erforderlich, um Vorstellungen zu entwickeln, wie die Entwicklung fortschreiten könnte. Ich hoffe, dass du in 19 Jahren zu einem weitläufig gebildeten jungen Mann herangewachsen sein wirst und dich auf dem besten Weg zu einem qualifizierten Verständnis von der Welt und den Menschen befindest. Das mag freilich eine Wunschvorstellung von mir sein. Doch warum sollten manchmal nicht auch Wünsche von analogen menschlichen „Dinosauriern“ in der Zukunft in Erfüllung gehen?
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