In vielen Momenten zwickt es jedoch bei irgendwem irgendwo. Das muss gar nicht mit dem Leben im Kollektiv selbst zu tun haben. Manchmal fühlt mensch sich nicht ganz rund, hat ungeklärte Lebensfragen in sich oder findet einfach alle blöd. In solchen Momenten probieren wir, uns gegenseitig, soweit es uns möglich ist, zu unterstützen, und versuchen, uns geduldig und verständnisvoll beim Durchmachen solcher Situationen zu begleiten. Zum Glück sind es alles Phasen, die einander abwechseln, kommen und wieder gehen. Die permanente, achtsame und bewusste Auseinandersetzung mit den Beziehungen untereinander und mit sich selbst gehört dabei zu den essenziellen Voraussetzungen.
Ein harmonisches Ganzes? Das Kollektiv von außen betrachtet
Das Kollektiv selbst ist mehr als nur die Summe seiner Einzelteile. Es wächst zu einem eigenen Wesen, das Zuwendung, Administration und Leitung braucht. Wenn die Bewohner*innen (also die Einzelteile) das Gefühl bekommen, dass das Kollektiv-Wesen seine eigene Richtung eingeschlagen hat oder der Gruppe über den Kopf wächst, muss es wieder in seine Einzelteile zerlegt werden. Denn Entwicklungen, die sich unbeabsichtigt ergeben, hinter denen aber niemand wirklich steht, oder die im Grunde alle überfordern, können und sollen bewusst in die gewünschte Richtung angepasst werden. Dann heißt es, einzelne Aspekte zu überdenken, Altes, nicht mehr Dienliches abzulegen und sich für Bewährtes wieder bewusst zu entscheiden. Es gilt, eine offene Haltung und Motivation zu kultivieren und voranzutreiben, aus der Neues entstehen kann, das unserem Weg förderlich ist.
Ich glaube, das, was vom Hofkollektiv Wieserhoisl von außen oft wahrgenommen wird, ist dieses Kollektiv-Wesen. Es ist etwas Harmonisches, Einträchtiges, Ausgeglichenes, etwas, das stark zusammenhält. Ein Ort und Menschen, mit denen mensch sich wohl fühlt. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, dass wir als Gruppe auch dann als angenehm und wohlwollend wahrgenommen werden, wenn es gleichzeitig intern ganz schöne Spannungen und Konflikte gibt. Das mag an unserem Grundsatz des respektvollen Umgangs miteinander liegen. Oder an der Existenz des angenehmen, wohlwollenden Wesens, das wir miteinander geschaffen haben.
Ja, wir haben uns für einen gemeinsamen Weg entschieden. Dabei durchlaufen wir auch immer wieder tiefe Stimmungstäler. Es gab schon Situationen, da hat uns der Mut verlassen. Aber: Wenn es gut läuft oder wir zusammen eine schwierige Situation überstanden haben, dann ist das Hochgefühl umso intensiver, umso bestätigender. Dann wissen wir, warum wir uns für diesen gemeinsamen Weg entschieden haben. Weil es ein unglaublich starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit ist, das uns erfüllt.
Komm und begleite uns (ein Stück)
Mit diesem Buch möchten wir einen Einblick in unsere Geschichte und unseren Werdegang geben. Wir möchten davon erzählen, welche Handlungsmöglichkeiten wir für uns gefunden haben, um das konsumorientierte, neoliberale und individualistische „Business as usual“ zu durchbrechen – und stattdessen einen anderen, gemeinsamen Weg einzuschlagen.
Ganz nach dem Motto, das auf einem Plakat in unserer Küche hängt: „Resistance of the heart against business as usual“. Wir sind also mit ganzem Herzen bei der Sache. Unser Widerstand entspringt aus unserem tiefsten Inneren.
Was wir dir noch mitgeben möchten: Wir möchten damit keinesfalls eine Schablone bieten. Unsere Geschichte, unser Lebensentwurf erhebt keinen Anspruch darauf, die Lösung für alle und alles zu sein. Dinge, die für uns super funktioniert haben oder an denen wir gescheitert sind, können sich für dich, deine (zukünftigen) Mitbewohner*innen und überhaupt für andere Menschen und andere Konstellationen ganz anders gestalten. Wir möchten dir einfach zeigen, wie wir es machen, und dir dabei die Augen für diese Art von Lebensentwurf öffnen, dir den ein oder anderen Aha-Moment bescheren oder dir einfach eine dicke Portion Inspiration mitliefern. Mit der du dann anfangen kannst, was du möchtest.
Was mensch auch nicht vergessen darf: Wir haben damit nichts Neues erfunden. Vielmehr entdecken wir bereits von anderen Gelebtes für uns neu und passen es an unsere Bedürfnisse an. Probieren aus. Schreiten fragend voran. Begleite uns ein Stück durch die Geschichte des Hofkollektivs Wieserhoisl. Lache, schmunzle, staune. Lass dich inspirieren!
Das Ende unserer Träume war der Beginn unseres neuen Lebens – unsere Entstehungsgeschichte
Die Idee, in einer Gemeinschaft, selbstbestimmt und eingebunden in die Kreisläufe der Natur zu leben, schwirrte schon lange in unseren Köpfen herum. Letztendlich war die Gründung des Hofkollektivs Wieserhoisl für uns irgendwie eine logische Sache. Eins führte zum anderen. Wir hatten Landwirtschaft studiert, wir lieben die Natur, interessieren uns für unsere Umwelt und lernten auch immer mehr darüber, wie sehr sich unser Klima verändert.
› Unser Zuhause: ein gemütliches, traditionelles weststeirisches Bauernhaus.
Wir beobachteten, dass die sozialen Ungerechtigkeiten in der Welt immer größer werden und dass ein individualisierter, konsumorientierter Lebensstil nicht mit einer nachhaltigen Entwicklung einhergeht. Wir waren jung und lebten in Wohngemeinschaften in der Stadt. Und was wir wollten, war, gemeinsam am Land zu leben und Landwirtschaft zu betreiben.
Wir hatten uns schon während unserer Studienzeit für das Thema „Leben in Gemeinschaft“ interessiert und über mehrere Jahre hinweg Veranstaltungen zu diesem Thema organisiert. Wir tauschten uns regelmäßig über unsere Ideen und Träume aus. Und es rückte immer näher: Eine Gruppe von Freund*innen hatte sich bereits zusammengetan und suchte aktiv nach Bauernhöfen, die sie gemeinsam beziehen könnte.
Ein Aussteiger*innendasein zu führen, abgekapselt von der Außenwelt, nichts mehr mit ihr zu tun haben zu wollen, war nie unser Bestreben. Im Gegenteil: Wir wollten damit etwas bewegen. Wir wollten unsere eigenen Ideen umsetzen, um den vielfältigen Missständen dieser Welt entgegenzuwirken. Wir wollten aktiv mitgestalten, Lösungen finden: für eine nachhaltige Gesellschaft, ein friedliches Miteinander, eine Welt ohne Ausbeutung. Mit Respekt vor der Natur die natürlichen begrenzten Ressourcen schonen. Wir wollten ein Leben, in dem unser Tun nachvollziehbar ist. Sinnerfüllt. Uns befreien aus der Ohnmacht gegenüber den vielen Problemen der Welt.
Wo alles anfing: Studienzeit und erste Erfahrungen mit der Selbstorganisation
Als Ursprungsort unserer Gemeinschaft können wir die Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU) festlegen. Dort haben wir uns kennengelernt, Freundschaften geschlossen, saßen nebeneinander im Hörsaal. Es war eine unbeschwerte Zeit, vor uns breitete sich die Zukunft aus, mit einer Fülle an Möglichkeiten.
Und dort hatten wir uns zum ersten Mal ernsthaft über die Möglichkeit des Zusammenlebens unterhalten. Auf Veranstaltungen, bei lebhaften nächtlichen Diskussionen am Küchentisch in unseren WGs haben wir schnell herausgefunden, dass wir ähnliche Meinungen, Gesinnungen, Perspektiven haben. Wir wollten mit unseren Händen arbeiten, uns am liebsten gar nichts vorschreiben lassen, und wir wollten einen Beitrag für eine fairere, zukunftsfähige Welt leisten.
Einige von uns wurden in Gemeinschaftsgärten tätig. Einige engagierten sich in der Österreichischen Hochschüler*innenschaft (ÖH). Zudem waren wir im Tüwi aktiv, einem Kulturverein, der im Türkenwirt-Gebäude der BOKU angesiedelt war und in dem wir uns am selbstverwalteten studentischen „Beisl“ (einem kleinem Lokal) beteiligten und immer wieder Veranstaltungen mitorganisierten. So hatten wir gelernt, wie mensch als Kollektiv tolle Projekte umsetzen kann.
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